Artikel-Schlagworte: „Ausgabe 4“
Wie liest sich ein Roman, dessen eigentliche Aussagen im Ungesagten stecken? Und: Wie wird aus Pichón Garay eine Hommage an Thomas Pynchon? Mit kriminalistischer Neugier werden hier die Rezensionen durchleuchtet, die zu Juan José Saers Roman Ermittlungen (vgl. Rezension in ReLü 2) verfasst wurden.
In diesem preisgekrönten Roman von Laurent Gaudé verheißt „Frau Sonne“ keinesfalls nur Wärme und Licht. Sie bestimmt das Leben der Menschen in dem kleinen süditalienischen Dorf Montepuccio und bringt manch einen von ihnen um den Verstand. Auf 250 Seiten entsteht eine Welt voller Gerüche, Farben und Emotionen, die das Herz des Lesers wärmt – nicht nur im Winter.
Weit verzweigt wie die Mafia selbst sind die Handlungsstränge, die Schauplätze und das Netzwerk der Figuren in diesem erfrischend frechen und verblüffenden Debütroman. Ottavio Cappellani hat mit Wer ist Lou Sciortino? eine skurrile Persiflage auf die Mafia geschrieben, die die bekannte Filmlegende vom allmächtigen Paten genüsslich demontiert.
Mit seinem elften Roman stellt John Irving wieder einmal sein Talent als Geschichtenerzähler unter Beweis. Und er versteht sein Handwerk: Ohne Eile breitet er vor dem Leser eine bunte Welt voll skurriler Charaktere aus, Tragik und Komik liegen dicht beieinander, Wortspiele und Bilder werden gekonnt eingesetzt. Der deutschen Übersetzung gelingt es jedoch nicht immer, Irvings Stil gerecht zu werden.
Eine vielseitige Reise durch absurde Welten präsentiert uns der Verlag Antje Kunstmann in der Übersetzung von El gaucho insufrible (Der unterträgliche Gaucho) des Chilenen Roberto Bolaño. In fünf Kurzgeschichten und zwei Essays werden äußerst verschiedene Welten und Charaktere dargestellt - wie zum Beispiel der traurigste Nordamerikaner der Welt in den Straßen von Mexiko Stadt, ein pensionierter Rechtsanwalt in der argentinischen Pampa oder gar ein Rattenpolizist in der Kanalisation.
„Ich bin arm, ledig, deprimiert. Seit Monaten denke ich über meine Krankheit des zu vielen Nachdenkens nach und habe die Wechselbeziehung zwischen meinem Unglücklichsein und der Inkontinenz meines Verstandes zweifelsfrei festgestellt.“ Für Antoine gibt es keine Alternative mehr: Um endlich ein schönes, angepasstes Leben in der Gesellschaft führen zu können, muss aus ihm ein Idiot werden.
Die Beschreibung einer Siebzehnjährigen, der ihre Begegnungen mit Bohemiens und eleganten Frauen wie zu warm genossener Champagner rasch zu Kopf steigen, wirkt in Sybille Bedfords süffiger Sprache Schwindel erregend. Die Übersetzerin Sigrid Ruschmeier kühlt sie jedoch mit klaren Sätzen auf eine angenehme Temperatur ab, so dass der Leser, bevor auch ihn der Schwindel erfasst, das Prickeln im Kopf genießen kann...
Islamistischer Terror, die Generalverurteilung arabischer Menschen, der Umgang mit dem 11. September, der Krieg im Irak: Patricia Duncker gelingt es in ihrem neuen Roman, aus diesen schweren Zutaten die leichte, unterhaltsame Geschichte von Miss Webster und Chérif zu zaubern.
Auf die Titelfrage seines berühmten Essays von 1947: „Qu’est-ce que la littérature?“ – „Was ist Literatur?“ antwortet Sartre u. a. mit dem Bild, ein literarisches Objekt sei „ein seltsamer Kreisel“, der nur in der Bewegung zwischen Schreibenden und Lesenden existiere und in seiner imaginativen Dynamik Welten erschaffe und enthülle.
Der wesentlichen Freiheit einer solchen Orientierung entspricht die programmatische Vielfalt auch dieser ReLü-Ausgabe, in der mit Der alltägliche Kampf (Manu Larcenet) ein Comic besprochen wird, und neben einem Kriminalroman, der keiner ist (Ottavio Cappellani, Wer ist Lou Sciortino?), eine Satire auf das sinnentleerte Leben der modernen Gesellschaft (Martin Page, Antoine oder die Idiotie) vorgestellt wird.