Editorial Ausgabe 4
von Caroline Grunwald

Liebe Leserinnen und Leser!

Auf die Titelfrage seines berühmten Essays von 1947: „Qu’est-ce que la littérature?“ – „Was ist Literatur?“ antwortet Sartre u. a. mit dem Bild, ein literarisches Objekt sei „ein seltsamer Kreisel“, der nur in der Bewegung zwischen Schreibenden und Lesenden existiere und in seiner imaginativen Dynamik Welten erschaffe und enthülle.

Der wesentlichen Freiheit einer solchen Orientierung entspricht die programmatische Vielfalt auch dieser ReLü-Ausgabe, in der mit Der alltägliche Kampf (Manu Larcenet) ein Comic besprochen wird, und neben einem Kriminalroman, der keiner ist (Ottavio Cappellani, Wer ist Lou Sciortino?), eine Satire auf das sinnentleerte Leben der modernen Gesellschaft (Martin Page, Antoine oder die Idiotie) vorgestellt wird.

Wie sich das Enthüllen der Literatur auch im Versteckspiel mit der Wirklichkeit vollziehen kann, zeigen die in unserer neuen Ausgabe kreiselnden Romane von Sybille Bedford (Ein trügerischer Sommer), Martin Page oder auch Ottavio Cappellani, deren Figuren sich, indem sie erzählend Fiktionen leben, in ihren Geschichten vor neuen Kulissen die alten Fragen nach Trug und Wahrheit stellen.

Und die Übersetzer, diese für gewöhnlich unsichtbaren Vermittler von Imagination? Sie transportieren kreiselnde Weltentwürfe von einer in die andere Sprache und ermöglichen so weitere Begegnungen mit „fiktiven Wirklichkeiten“, wie der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa sagt. Sigrid Ruschmeier zum Beispiel verleiht der Hauptperson in Sybille Bedfords Roman eine Sprache, die deren ursprüngliche Unbändigkeit haargenau einfängt, Constanze Neumann bildet selbst die sprachlichen Eigenheiten englischsprachiger Sizilianer in Cappellanis Werk im Deutschen nach und Angela Wagner übersetzt Laurent Gaudés Sonne der Scorta so geschickt ins Deutsche, dass der Leser der Fik­tion erliegen mag, den Originaltext vor sich zu haben.

Das Nachschreiben der Übersetzenden sozialisiert also die Originale der Literaten unaufhörlich weiter, es macht sie wahrhaft grenzenlos und stellt in solcher kosmopolitischen Gesinnung die neu erschaffenen Welten – mit Sartres Antwort auf die Frage, was Schreiben heiße – „der Großherzigkeit des Lesers als Aufgabe anheim“.

Viel Vergnügen mit dieser inzwischen vierten Ausgabe von ReLü wünschen

Caroline Grunwald und Hans-Werner Scharf für die ReLü-Redaktion

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