Die siebzehnjährige Flavia verbringt einen trügerischen Sommer an der Côte d’Azur. Fasziniert vom lockeren Leben der Bohemiens, die sie in diesem Sommer kennenlernt, entdeckt sie ihre eigene Verführbarkeit. Anfangs jedoch zelebriert sie ihr Alleinsein, schließt sich in den Turm ein, den ihr ein Freund der Mutter für eine Zeit überlässt, und büffelt für Prüfungen.
Zum Tagesritual gehört ein Bad im Meer, das sie nicht sanft plätschernd umspült, nein, „Es packte einen mit Macht, man wurde Teil davon …“. Im Englischen geht ihr das flüssige Element sogar unter die Haut: „It got under your skin, you became part of it.“
Mit diesen Worten beschreibt Flavia auch, wie sie als junge Frau in den Sog einer anderen Strömung gerät, deren kühler Hauch verlockend auf sie gewirkt hat. Bereitwillig lässt sie sich von neu gewonnenen Freunden aus ihrer strengen Routine reißen, um deren intellektuelle Brillanz zu genießen und an ihrer Freigeistigkeit teilzuhaben. Sie hat „ein paar kluge Freunde“, die im Original nicht nur „klug“, sondern „bright“ sind, also auch fröhlich und heiter, leuchtend und strahlend. In deren Glanz sonnt sie sich, „aus Spaß an der Freude“, „just for the fun of it“, und genießt die Gemeinschaft.
Noch lässt sie sich nicht völlig ablenken, kehrt immer wieder an den Schreibtisch zurück, trinkt ihren Wein nur mit viel Wasser verdünnt. Doch dann verliert sie den Sinn für die richtige Richtung, ihr unterläuft A Compass Error – so der Originaltitel des Romans von Sybille Bedford. Aber Flavia gerät nicht auf die schiefe Bahn. Dem erfahrungshungrigen, naiven Mädchen entgeht nur, dass das Interesse einer plötzlich erscheinenden eleganten Frau nicht ihr persönlich gilt. Vielmehr nutzt diese Frau die Schwäche, die das Mädchen für sie hat, um es zu manipulieren, und stellt damit Flavias moralische Integrität in Frage.
Flavia erzählt, deutet, plappert, fragt; aus ihr sprudeln die Sprachen nur so hervor. Sie ist vielsprachig aufgewachsen, und jede Sprache hat für sie eine andere Qualität: Auf Englisch kann sie den Bericht für ihren Tutor „in einem Rutsch … in ihrem ureigenen Telegrammstil“ herunterschreiben: „The work report … she was able to dash off … in a rapid personal telegraphese.“ Das Französische ist die Sprache, in der sie sich verführen lässt und deren kühl-elegante und oft formelhafte Wendungen ihr den Kopf verdrehen: „Die Fremde erwiderte (nun auf Französisch): ‚Merci pour la bonne soirée.‘“ Das verkaterte Erwachen, nachdem Flavia im perlenden Geplapper ihrer Verführerin ertrunken ist, beleuchtet sie unbarmherzig auf Latein, der Sprache ihrer Disziplin und Bildung: „Veritas? … o je.“ In ihrem schriftstellerischen Ehrgeiz wählt Flavia ihre Worte sorgfältig, und ebenso sorgfältig übersetzt Sigrid Ruschmeier die ungelenken Ausdrücke, die ihr dazwischenfunken, wobei sie diese in der Übersetzung nicht immer an die selbe Stelle setzt wie im Original. So macht sie aus dem idiomatischen „It never crossed her mind“ ein unbekümmert schiefes „Nie kam ihr in den Kopf …“, das durchaus zu Flavia passt.
Gegenüber dem teils überbordenden Reihungsstil des Originals wirkt die Syntax der deutschen Übersetzung schlank und aufgeräumt: „For a long time she stayed outside, keeping from sleep to hold that moment, hold it as being now, not letting it go to be yesterday, go into past.“ – Hier ist dicht in einen Satz gedrängt, was Flavia in dem Moment empfindet. Die Übersetzung entzerrt diese für das Original charakteristische Ballung von Emotionen und Gedanken: „Lange blieb sie draußen stehen und wehrte sich gegen den Schlaf, weil sie den Moment festhalten wollte. Er sollte sein und bleiben, nicht gestern werden und der Vergangenheit anheim fallen.“
Im Original ist die Sprache inspirierend und prickelt wie Sekt. Die Sprache der Übersetzung prickelt mit Selters verdünnt und steigt daher nicht so zu Kopf. Die dort in vielen englischen Begriffen eingefangene „lucidity“, „geistige Klarheit“, kommt hier, anders als im Original, auch in der Syntax zum Ausdruck. Das erweckt den Eindruck, als sei Flavia im Laufe der Zeit, die zwischen der Erstausgabe des Buches auf Englisch und der Übersetzung ins Deutsche liegt, etwas reifer und ihre Sprache etwas nüchterner geworden …
Dennoch geben beide, die Autorin Sybille Bedford und ihre Übersetzerin Sigrid Ruschmeier, der Kraft von Flavias ungebärdigen Worten, die sie noch nicht zu bändigen vermag, mit ihrer klaren, reichen Sprache eine gleichermaßen schöne Form.
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Sybille Bedford: Ein trügerischer Sommer, aus dem Englischen übersetzt von Sigrid Ruschmeier. München: Schirmer Graf 2006, 288 Seiten
Sybille Bedford: A Compass Error. 1968
Sybille Bedford wurde 1911 als Tochter des deutschen Barons von Schönebeck und seiner englischen Frau in Deutschland geboren und wuchs dort auf. Später lebte sie außerdem in Italien, Frankreich und England. Sie arbeitete als Gerichtsreporterin, Journalistin und (Reise-) Schriftstellerin. Ihr erster Roman A Legacy erschien 1956; die erste Auflage von Ein trügerischer Sommer wurde 1968 veröffentlicht. 2005 erschien ihre letzte Veröffentlichung: ihre Quicksands genannten Memoiren. Im Februar 2006 starb sie in London.
Sigrid Ruschmeier wurde 1945 in Berlin geboren. Sie studierte Germanistik und Politologie an der Freien Universität Berlin. Sie übersetzte auch Sybille Bedfords Ein Liebling der Götter. Weitere von Sigrid Ruschmeier übersetzte Autoren sind unter anderem Penelope Lively, Elizabeth Bowen, Fay Weldon und Bill Bryson.