Buchcover Völkerverständigung und Vorurteile
Nina Restemeier über Miss Webster und Chérif von Patricia Duncker, aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence

Elizabeth Webster, eine resolute und mürrische pensionierte Französischlehrerin, erleidet eines Nachts einen „komplexen Zusammenbruch“, von dem sie sich nur langsam wieder erholt. In der Klinik empfiehlt ihr der Arzt, eine Reise in ein unbekanntes Land zu unternehmen, und so findet sich Miss Webster, ohne es eigentlich zu wollen, plötzlich in einem Luxushotel in Marokko wieder. Die Hotelangestellte Saida kümmert sich um sie und erwähnt beiläufig ihren Sohn Chérif, der gerne in England studieren würde. Miss Webster ahnt, was von ihr erwartet wird, doch kommt es vorerst zu keinem Treffen mit dem Jungen. Einige Wochen später allerdings – Miss Webster ist mittlerweile nach England zurückgekehrt – steht mitten in der Nacht Chérif mit kostbaren Geschenken beladen vor ihrer Tür. Er bewerbe sich um einen Studienplatz und suche eine vorübergehende Bleibe. Zu ihrer eigenen Überraschung bietet Miss Webster ihm an, bei ihr zu übernachten. Da sich die Wohnungssuche für Chérif wegen der weit verbreiteten Vorurteile gegenüber Arabern als schwierig gestaltet und Miss Webster ein wenig Gesellschaft gut tut, bleibt er schließlich als Untermieter bei ihr.

Bei gemeinsamen Teestunden gewöhnen sich die beiden ungleichen Mitbewohner aneinander und Miss Webster beginnt, dem Leben völlig neue Seiten abzugewinnen, kauft eine Satellitenanlage und einen DVD-Player und geht mit Chérif und seiner englischen Freundin auf ein Rockkonzert. Währenddessen nimmt das Gerede im Dorf Little Blessington kein Ende. Wird Miss Webster etwa senil und lässt sich von dem jungen Araber bestehlen? Ist Chérif gar ein getarnter Terrorist? Natürlich sind Miss Webster und Chérif zunächst über alle Vorwürfe erhaben, alle vermeintlich zweifelhaften Vorkommnisse lassen sich erklären. Und doch, irgendwie läuft alles zu glatt, ist Chérif zu nett, zu hübsch, zu zuvorkommend, zu angepasst, und nach und nach regen sich doch Zweifel in Miss Webster und dem Leser, ob Chérif wirklich der ist, für den er sich ausgibt.

Die Geschichte von Miss Webster und Chérif entwickelt sich langsam, und das liegt an Patricia Dunckers Hang zu ausführlichen Beschreibungen, die zwar sehr zur Illustration beitragen, aber den Fortgang der Geschichte ein wenig bremsen.

In symmetrischen Reihen gepflanzte Palmen säumten die Wege und alten Mauern. Rosen mit herrlich sich aufblätternden Blüten schimmerten weiß und rot in gut aufgelockerter, importierter Erde. Ein riesiger Hibiskus, der seine Blüte hinter sich hatte und an dem nur noch ein paar schlaffe, trostlose Blütenblätter hingen, reckte sich, um der Bougainvillea Paroli zu bieten. Am liebsten saß Elizabeth Webster auf einer versteckten Steinbank vor einem wahren Gebirge aus Jasmin, der einen seltsam trübsinnigen Duft in die Nachmittagshitze verströmte. Eine Reihe von Brunnen, exotisch gekachelt in Ocker, Rot, Blau und dem zarten Grün des Islams, war über den Garten verteilt, stattlich wie mittelalterliche Taufsteine.

Die detailverliebten bildhaften Beschreibungen wechseln sich ab mit Passagen von schnörkelloser und zielstrebiger Sprache, die dennoch nicht trivial wirken. Werner Löcher-Lawrence übersetzt das eine wie das andere scheinbar mühelos. Als nicht ganz einfach zu übersetzen erweisen sich dabei Chérifs Unsicherheiten mit der englischen Sprache und die daraus entstehenden Missverständnisse. So kann an manchen Stellen die Komik des Originals nicht übertragen werden:

„I will pay you rent,“ declared Chérif, shoulders back, decided. „You can pay me a peppercorn rent so that there are no obligations either side. And you can contribute to the food. For the rest you can help me cook and dig the garden. That’s it.“ „Peppercorn?“ He frowned. Was she to be paid in grain and vegetables? But she was laughing again.

Die „nominelle Miete“, die Chérif in der deutschen Übersetzung zu bezahlen hat, kann selbstverständlich keine solche Verwunderung hervorrufen: „Eine nominelle Miete? Er zog die Brauen zusammen. Was war darunter zu verstehen? Aber sie lachte schon wieder.“

Lediglich ein Fehler fällt sofort ins Auge: „Die französischen Gerichte waren sich noch immer über den Fall eines Jungen uneins, der seine Spielkameradin, ein dreizehnjähriges Mädchen, ermordet hatte. Er war mit ihr in den Garten gegangen und hatte sich als Der Schrei verkleidet, komplett mit weißer Maske und Metzgermesser.“ Nun ist hier allerdings nicht die Rede vom berühmten Gemälde Edvard Munchs – der besagte Junge imitiert den Mörder aus jener Horrorfilmreihe, die auch auf Deutsch Scream heißt.

Interessant ist der unterschiedliche Umgang mit der französischen wörtlichen Rede: Während sie sich in der deutschen Übersetzung kursiv vom restlichen Text abhebt, steht sie im Original unauffällig zwischen den englischen Sätzen. Erfreulicherweise wird der Leser in keiner der beiden Fassungen bevormundet: Die Ausdrücke werden nicht anschließend übersetzt, sondern die Bedeutung erschließt sich auch für Leser ohne Französischkenntnisse meist aus dem Zusammenhang.

Viel wird angerissen in Patricia Dunckers Roman: Islamistischer Terror, die Generalverurteilung arabischer Menschen als Terroristen, der Umgang mit dem 11. September, der Krieg im Irak. Aber auch die Wandlung einer verschrobenen Seniorin, die erst auf ihre alten Tage aus ihrer Menschenfeindlichkeit erwacht. Patricia Duncker urteilt nicht und bietet auch keine allgemeingültige Lösung an. Sie erzählt vor allem eine unterhaltsame Geschichte.

Patricia Duncker: Miss Webster und Chérif, aus dem Englischen übersetzt von Werner Löcher-Lawrence. Berlin: Berlin Verlag 2006, 254 Seiten

Patricia Duncker: Miss Webster and Chérif. London: Bloomsbury 2006, 244 Seiten

Patricia Duncker wurde 1951 in Kingston auf Jamaika geboren und lebte unter anderem in England und Deutschland. Sie ist Professorin für Moderne Literatur und Kreatives Schreiben und veröffentlichte bereits vier Romane und zwei Kurzgeschichtensammlungen. Für ihren ersten Roman Hallucinating Foucault (dt. Die Germanistin), erschienen 1996, erhielt sie den Dillons First Fiction Award und den McKitterick Prize.

Werner Löcher-Lawrence, Jahrgang 1956, übersetzte bereits zahlreiche Bücher unterschiedlichster Genres aus dem Englischen. Er ist Lektor bei der Deutschen Verlags-Anstalt und Mitherausgeber der Anthologie „20 unter 30 – Junge deutsche Autoren“.