Editorial Ausgabe 11
von Caroline Sauter

Liebe Leserinnen und Leser!

„Das war 2010!“ So ist es in den letzten Tagen und Wochen in allen großen und kleinen Zeitungen zu lesen gewesen. Jahresrückblicke, Reflexionen, Höhe- und Tiefpunkte des zehnten Milleniumsjahres. Machen wir mit: Helene Hegemanns Axolotl Roadkill löst eine heiße Diskussion über die Ethik des Büchermachens aus. Ausgerechnet ein Buch entzündet die inzwischen sogenannte Integrationsdebatte in Deutschland. Und auch der Papst schreibt prompt wieder eines. Bücher haben offenbar die Fähigkeit, etwas auszulösen, in die Gesellschaft einzugreifen, sie vielleicht zu verändern – auch in der vielbeschworenen Generation des Web 2.0. Bücher polarisieren. Bücher machen Meinungen. Vielleicht sogar Leute. Oder gar Menschen.

Ein Buch muss allerdings gelesen werden, damit man es diskutieren kann. Denn Lesen heißt Verstehen. Lesen wie Verstehen ist relational. Das Lesen lässt mich, mit anderen Worten, nicht mehr die sein, die ich war. Was aber wird aus mir, wenn ich gelesen habe? Dieser Frage geht Andreas Schusters Rezension von Ricardo Piglias Studie El último lector / Der letzte Leser (aus dem argentinischen Spanisch von Leopold Federmair) in unserer Rubrik „Übers Übersetzen“ nach – und kommt zu dem Ergebnis: Der Leser eines Textes ist sein Übersetzer. Derjenige nämlich, der mit seiner Lektüre dem Text einen Sinn abgewinnt und ihn ins ‚Leben‘ überträgt (oder auch ins Feuilleton). Und in diesem Sinne unterstreicht auch der mehrfach preisgekrönte Übersetzer Ulrich Blumenbach in seinem Essay Wider Deutsch mit Bügelfalten emphatisch die Wichtigkeit des Übersetzerberufs. Denn er hat Recht, wenn er sagt: „Wir sind richtig wichtig! Wir tragen etwas bei. Zur Kultur, zum Leben.“ Deshalb kann er auch im Weiteren von einer „moralischen Verpflichtung“ des Übersetzers reden. Denn wenn der Übersetzer seinen kulturpolitischen Auftrag ernstnimmt, kann er viel verändern. Und das ist in erster Linie eines: die Sprache.

Wie sehr Übersetzer ihre erlesene Welt zu verändern imstande sind, indem sie neue Sprache schaffen, zeigt Silke Pfeiffers Besprechung von Vadim Jendreykos Dokumentarfilm über die im November 2010 verstorbene, große Übersetzerin Swetlana Geier. Die Frau mit den 5 Elefanten macht exemplarisch deutlich, dass Übersetzen nicht nur ein Beruf ist, sondern nachgerade ein Lebensstil: ein Lebensstil, der Wörter sucht, formt, findet, dreht und wendet – und damit fremdes und eigenes Leben berührt, transformiert, alteriert. Dem es ums Verstehen geht. Und dass dieses Verstehen wiederum an der Erinnerung hängt und wie sehr es von ihr abhängt – dies illustriert Vera Elisabeth Gerlings Rezension von Alan Pauls’ argentinischem Roman El pasado, von Christian Hansen unter dem Titel Die Vergangenheit für das Deutsche verstanden: Rímini, der Held dieses Romans, der in und mit der Literatur mit und gegen seine Erinnerungen kämpft, ist nämlich beruflich nicht zufällig ein Übersetzer.

Diese und weitere Texte warten in ReLü Nr.11 darauf, von Ihnen gelesen, reflektiert und diskutiert zu werden. Dass auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich von ‚unseren‘ Büchern und unseren Texten berühren und verändern lassen, sie lesen und wieder-lesen (re-lire), sie diskutieren und mit ins Leben nehmen, kurz: sie übersetzen, dazu möchten wir Sie mit den Rezensionen, Essays und Kolumnen der neuen Ausgabe von ReLü einladen.

An- und aufregende Lektüren wünscht Ihnen

Caroline Sauter
für die ReLü-Redaktion

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