Buchcover Von der Bühne zum Buch – alles andere als tragisch
Anja Schnabel über Rhetorizität des hohen Stils von Alexander Nebrig,

Der Einleitung seiner Studie hat Alexander Nebrig den interessanten Untertitel „Sinn und Zweck der Übersetzungsphilologie“ gegeben, und so steht denn auch die Übersetzbarkeit des hohen Stils, ihre Funktionsweise und Wirkung – mit anderen Worten: die Rhetorizität des hohen Stils – im Zentrum der Untersuchung. Der Verfasser sieht die Aufgabe der Übersetzungsphilologie darin, „Probleme der deutschen Literaturgeschichte an literarischen Übersetzungen zu formulieren.“ (S. 13) Mit Hilfe der Übersetzungsgeschichte französischer Tragödien ins Deutsche verifiziert Nebrig seine These von der Übersetzungstrendwende um 1800: Orientierten sich die Übersetzer der tragédie classique vor 1800 an der klassizistischen Dramaturgie der Franzosen, so folgten sie ab 1800 der romantischen Dramaturgie ihrer deutschen Zeitgenossen. Es sei genau dieser dramaturgische Kontrast, der die wichtige Differenz zwischen den hohen Trauerspielen deutscher und französischer Dramatiker repräsentiere.

Nebrigs 2006 an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation eingereichte Studie besteht – neben Einleitung, Schluss und einem beachtenswerten Anhang, auf den am Ende noch einmal gesondert eingegangen wird – aus zwei Teilen mit jeweils drei Kapiteln, die ihrerseits fein untergliedert sind.

Im ersten Teil widmet sich der Verfasser den beiden Übersetzungswellen, welche die literarischen Übersetzungen der Tragödien Racines bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts prägten. Literaturgeschichtlich sei besonders der Ort der Übersetzung entscheidend gewesen: Während die Übersetzungen der ersten Welle (1730-1760) als Nachahmungen des Geschmacks der aristokratischen Elite im Deutschen Reich gelten könnten, die ausschließlich auf der Bühne rezipiert worden seien und zum kleinen, aber festen Repertoire einer wandernden Schauspieltruppe gehört hätten, kennzeichne die zweite Übersetzungswelle (1800-1820), in der es schon zahlreiche stehende Theater mit umfangreichem Repertoire gab, den Übergang zum Lesedrama. Inhaltlich durch die politische Macht in Frankreich – namentlich Napoleon – geprägt, sei die zweite Übersetzungswelle völlig an den Bühnen vorbeigegangen, die erste hingegen mit einer Erneuerung des hohen Trauerspiels sowie einer theatergeschichtlichen Disziplinierungskampagne verbunden gewesen. Nebrig hebt hervor, dass die Generation Gottscheds mit der literarischen Parteinahme für die französische Klassik – und die Versform des Alexandriners – untrennbar verknüpft sei, dass Lessing für den Entwurf einer neuen Dramenpoetik stehe und erst mit Schiller die Tragödie des hohen Stils zurückkehre.

Mit dem Titel des zweiten Teils – „Von der Deklamation zur Lektüre“ – greift Nebrig den maßgeblichen Unterschied zwischen klassizistischer und romantischer Übersetzungswelle noch einmal auf: Der übersetzte Texte im lauten Vortrag bzw. in der Rede weiche einer stillen Lektüre. Der Sprachwechsel avanciere damit zum Medienwechsel, wobei die Konzeption, die dem Übersetzer nun als programmatische Einheit diene, die poetische Gattung sei. Nebrig erörtert im Folgenden die durch die zweite Übersetzungswelle entstandenen Auswirkungen, die auf der formalen Ebene zu einer Lockerung der Versstruktur führen und auf der konzeptionellen Ebene zu einer hermeneutischen Tradierung, d. h. zu einer Befremdung gegenüber der Form. Beide Vorgänge ergänzen sich gegenseitig und steuern Darstellung und Wahrnehmung der Übersetzung. Da die meisten Blankversübersetzer auf das syntagmatische Verfahren, die Rede nach Einheiten zu strukturieren, verzichtet hätten, sei die Rhetorizität des hohen Stils ins Zentrum der kritischen Wahrnehmung gerückt. „Der Blankvers bestärkt den Übersetzer, die Rhetorizität des Originals zu problematisieren, und stellt sich damit in den Dienst der romantischen Dramaturgie.“ (S. 151) Mit der hinzukommenden romantischen Hermeneutik entstehe die Frage nach der Referenz des Textes, die erst das Deutungsproblem der Form aufwerfe. Das Resultat in den romantischen Übersetzungen sei eine modifizierte Syntagmatik der Rede, die eine Veränderung des Rhetorischen, genauer gesagt eine Schwächung der pathetischen Wirkungsauffassung und – auf der Handlungsebene – eine „Entrhetorisierung des Charakters zu Gunsten seiner Psychologisierung“ zur Folge habe.

Nach diesen ausschließlich theoretischen Ausführungen kommt Nebrig im letzten Abschnitt seines zweiten Teils zu einem übersetzungsphilologischen Vergleich: Aufbauend auf der These, dass die beiden Dramaturgien zwei syntagmatischen Bauprinzipien entsprächen – einerseits einem allein durch die Aussprache sinnfälligen deklamatorischen Prinzip (der Rede), andererseits einem in die syntagmatische Struktur eingeschriebenen literarischen (dem Lesen) – vergegenwärtigt Nebrig anhand von drei Analysen die ‚neue‘ Funktion des Rhetorischen. Im Einzelnen werden Friedrich Christian Bressands und Carl Friedrich Cramers Athalia-Übersetzung unter dem Gesichtspunkt der Syntax, Johann Christoph Gottscheds und Cornelius Hermann von Ayrenhoffs Iphigenia-Übersetzung unter dem Aspekt der Disposition – der Anordnung der Gedanken und Argumente – sowie Peter Stüvens und Friedrich Schillers Phädra-Übersetzung hinsichtlich der Dualität der Rede einander gegenübergestellt und in Bezug auf ihre unterschiedliche Rhetorizität des hohen Stils rezeptionsästhetisch gedeutet. Zweifellos handelt es sich bei diesen Untersuchungen um das Herzstück der Studie. Mit Hilfe eines ausgefeilten linguistisch-rhetorischen Vokabulars analysiert Nebrig akribisch die syntagmatischen Bereiche der Übersetzungen, um sich schließlich für den Alexandriner als „ausgezeichneten Sprechvers für die hohe Tragödie“ (S. 205) auszusprechen. Klar und nachvollziehbar belegt er seine Argumentation an den genannten Textbeispielen, die er bis ins kleinste Detail prüft, um Differenzen und Gemeinsamkeiten beider Übersetzungswellen sowie die jeweiligen Probleme der Übersetzer aufzuzeigen. Indem Nebrig die Schwierigkeiten Cramers oder Bressands, Gottscheds oder Schillers deutlich macht, wird zugleich etwas Anderes evident: Der faszinierende hohe Stil des Originals, die virtuose Rhetorik Jean Racines.

Er habe eine „Stilgeschichte […] für die Gattung der hohen Tragödie“ (S. 341) schreiben wollen, bringt Nebrig im Schlussteil das Ziel seiner Studie auf den Punkt. Wenngleich das Wort „Stilgeschichte“ auf den ersten Blick doch etwas anmaßend, weil ‚kanonverdächtig‘ erscheint, so steht unbestreitbar fest, dass Nebrig mit seiner detaillierten Untersuchung einen wesentlichen Beitrag zur literarischen Übersetzungswissenschaft geleistet hat. Abgerundet wird sein Verdienst durch zwei im Anhang befindliche Register: dem Repertoireverzeichnis von über 200 Racine-Aufführungen im deutschsprachigen Raum bis zum Jahr 1841 sowie der bibliografischen Darstellung der Übersetzungswellen von 1666 bis 1846. Beide Verzeichnisse werden zukünftigen Forschern wertvolle Dienste leisten.

Alexander Nebrig: Rhetorizität des hohen Stils. Der deutsche Racine in französischer Tradition und romantischer Modernisierung, Göttingen: Wallstein Verlag 2007, 448 Seiten, 48 €.

Alexander Nebrig: Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin, Redaktionsmitglied von H-GERMANISTIK.http://www2.hu-berlin.de/literatur/mitarbeiter/nebrig/nebrig.html

Anja Schnabel: Dr. phil., DAAD-Lektorin im Fachbereich Deutsche Literaturwissenschaft und Sprache an der Université Paris Ouest Nanterre La Défense.