Buchcover Die Kunst des Leidens
Carmela Welge über Vincent von Joey Goebel, aus dem Englischen übersetzt von Hans M. Herzog und Matthias Jendis

Kann ein einzelner Künstler die gesamte Unterhaltungsindustrie vor dem endgültigen Verlust jeglichen Niveaus retten? Wenn er produktiv genug ist und die richtigen Leute sein Werk vermarkten, schon. – Das glaubt zumindest Foster Lipowitz, der Vorstandsvorsitzende des weltgrößten Medienkonzerns in Joey Goebels Roman Vincent.

Daher kommt ihm im hohen Alter die Idee, die Welt des Entertainment zu revolutionieren, die er mit seinen Firmen aus Profitgier immer stumpfer und eintöniger gestaltet hat, denn nun plagt ihn deswegen sein Gewissen. Zu diesem Zweck gründet er eine Akademie für besonders begabte Kinder, die dort lernen sollen, echte Kunst zu erschaffen. Ihre Werke, bei denen es sich auf Grund der leichteren Verkäuflichkeit in der Regel um Songs, Drehbücher und Serienkonzepte handelt, sollen dann dem Massenpublikum untergeschoben werden, indem Stars der Unterhaltungsbranche sie verkörpern. Eine besondere Rolle spielt dabei Vincent, der wohl Begabteste unter ihnen. Er steht im Mittelpunkt des Pilotprojektes ‚Leidender Künstler‘ und soll seinen Mitschülern den Weg bereiten. Da Lipowitz überzeugt ist, dass wahre Kunst nur aus echtem Leid entstehen kann, wird Vincent ein Manager, Harlan Eiffler, an die Seite gestellt. Dieser soll in Wirklichkeit nur dafür sorgen, dass in Vincents Leben ausreichend Unheil geschieht, damit ihm niemals die Ideen ausgehen. Das Ganze passiert selbstverständlich unter strengster Geheimhaltung.

So entspinnt sich die Geschichte um Vincents trauriges Leben, und parallel erfährt man immer mehr über Harlan, der ebendiese Geschichte rückblickend erzählt. Mit ihr verbunden sind verschiedene Parodien von Klischees wie auch einige ungewöhnliche Charaktere: Da gibt es den früheren Actionhelden Steven Sylvain, der nun Vincents Agent und um eine „gewähltere“ Ausdruckweise bemüht ist; da sind Vincents Mutter Veronica, wunderschön und mit fünfzehn zum ersten Mal schwanger, der Rockstar Chad, der über musikalisches Talent und gutes Aussehen verfügt, sich aber eigentlich nur für Geld, Sex und Drogen interessiert, und viele andere. Alle diese Figuren werden – abgesehen davon, dass sie wie jeder einzelne im Roman über ihre liebsten Musiker, Fernsehshows und Filme definiert werden – von Joey Goebel besonders über ihre Sprache charakterisiert.

Allein in der Figurenrede macht sich der ungewöhnliche Aspekt der Übersetzung dieses Buches bemerkbar: Der Text ist von zwei Übersetzern, Hans M. Herzog und Matthias Jendis, ins Deutsche übertragen worden. Anders allerdings als bei ‚Übersetzerteams‘, die es ja nicht selten gibt, ist hier angegeben, wer von beiden welchen Teil des Buches bearbeitet hat. Der Übergang zwischen den beiden Übersetzern ist glatt, soweit es die Erzählpassagen betrifft, und man würde ihn vermutlich gar nicht bemerken, wenn man nicht vorher vorne im Buch nachgelesen hätte, wie die Arbeit verteilt ist. Im Großen und Ganzen haben beide Goebels Text sehr treffend umgesetzt. Die Dialoge wirken jedoch bei Jendis, der sich häufig von der exakten Formulierung im Original entfernt, um den deutschen Satz natürlicher zu machen, deutlich lebhafter, während sich Herzog vor allem mit vulgären oder jugendsprachlichen Ausdrücken gelegentlich schwer tut. Einer Frau, die mit 22 Jahren fünffache Mutter ist und außer Sex nicht viel im Kopf hat, steht „äh, was soll’n das heißen?“ oder „Da gibt’s nich viel zu erzählen.“ einfach besser zu Gesicht als „Was ist das Schlimmste, was dir widerfahren ist, nachdem ich mich abgesetzt habe?“, auch wenn sie in der Zwischenzeit fünfzehn Jahre älter und zur Edelhure geworden ist, vor allem da sie im Original einfach „What’s the worst thing that’s happened to you since I left?“ und immer noch Sätze wie „but I’m not in on it no more“ sagt. Allerdings sind dies nur vereinzelt vorkommende Kleinigkeiten, die dem Lesevergnügen insgesamt keinen großen Abbruch tun. Zudem hat Jendis die ersten 50 Kapitel übersetzt, so dass man sich schon eine umfassende Vorstellung von den Figuren machen kann, bevor Herzog für die restlichen gut 100 Kapitel übernimmt.

Wie um seiner Medienkritik die Krone aufzusetzen, lässt Goebel es gegen Ende zu einem großen Showdown kommen, der in den mafiösen Strukturen des Showbusiness seinen Ursprung hat. Danach ist es vorbei mit den witzigen Charakteren und Kommentaren, die die bedrückenden Ereignisse um Vincent erträglich machten, und es bleibt nur Harlans Traum von einem Ende der Einsamkeit.

Joey Goebel lässt Harlan, den fiktiven Autor des Buches, Überlegungen über dessen Chancen auf Veröffentlichung anstellen, die in der Übersetzung von Hans M. Herzog lauten: „Allerdings wäre ich überrascht, wenn es veröffentlicht würde, weil die Geschichte schwer verkäuflich sein dürfte. Wegen seines Spagats zwischen Humor und Pathos, Komödie und Drama, anspruchsvoll und anspruchslos, könnte man es als ‚Tweener‘ abheften – für eine Veröffentlichung zu riskant, da es keine spezifische Zielgruppe anspricht.“

Schön, dass es die Verlage MacAdam/Cage und Diogenes trotzdem gewagt haben.

Joey Goebel: Vincent, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Hans M. Herzog und Matthias Jendis. Zürich: Diogenes 2005. 448 Seiten

Joey Goebel: Torture the Artist. San Francisco: MacAdam/Cage 2004, 267 Seiten

Joey Goebel wurde 1980 in Kentucky geboren und hat Anglistik studiert. Mit seiner Band The Mullets ist er mehrere Jahre als Sänger durch die Vereinigten Staaten getourt. Sein erster Roman The Anomalies, der 2003 in Amerika veröffentlicht wurde, soll 2006 auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel Freaks erscheinen.

Hans M. Herzog ist seit 1978 als Übersetzer von hauptsächlich englischsprachiger Literatur tätig. Er hat unter anderen Neil Jordan, Hanif Kureishi, Jay McInerney, Paul Theroux und Elmore Leonard und Sir Peter Ustinov ins Deutsche übertragen.

Matthias Jendis studierte in Göttingen Englische Philologie und Geschichte und arbeitete mehrere Jahre am Englischen Seminar. Seit 1996 arbeitet er als freier Übersetzer. 2002 erhielt er den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Preis für seine Neuübersetzung von Moby Dick und den Förderpreis Literatur des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst.