Buchcover Kritik der Kritik oder: Übersetzte Literatur als Problem der Kritik
Hans Theo Siepe über Ich habe sie geliebt von Anna Gavalda, aus dem Französischen übersetzt von Ina Kronenberger

Es mag ja sein, dass der Roman Ich habe sie geliebt von Anna Gavalda (Hanser Verlag 2003) schlecht ist, wie Hubert Spiegel befunden hatte (FAZ vom 26.4.2003), als er zugleich auch die deutsche und französische Literaturkritik zu Gavalda kritisierte. Aber auch er wird sich an seinen eigenen letzten Sätzen messen lassen müssen: „Darf man Kritiker an den Büchern messen, die sie loben [bzw. verreißen]? Man muß.“

Ich habe dieses zweite Buch der französischen Autorin (nach ihrem erfolgreichen Erstlingswerk Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet) ebenfalls gelesen, allerdings im Original, und bin von der deutschen Literaturkritik doch ein wenig überrascht: weder in der SZ (St. Maus) noch in der ZEIT (I. Radisch) noch in der FAZ (H. Spiegel) wird darauf hingewiesen, dass der Originaltitel Je l’aimais seine Offenheit für einen männlichen oder weiblichen Sprecher bzw. seine Doppeldeutigkeit (‚Ich liebte ihn/sie‘) in der deutschen Titel-Fassung Ich habe sie geliebt verloren hat. Kein Wort auch bei I. Radisch und H. Spiegel von einer den Roman insgesamt tragenden doppelten Geschichte in unterschiedlicher Perspektive (Je l’aimais) eines langen nächtlichen Gesprächs zwischen einer (von ihrem Mann verlassenen) Frau und ihrem (eine vergangene Liebe erzählenden) Schwiegervater; auch keine Zeile, welche den Leser den deutschen Titel überhaupt verstehen ließe.

Andererseits lässt sich die Kritik aber allzu gerne über „sprachliche Unzulänglichkeiten“ der Autorin aus: die SZ zitiert als Kitsch-Beleg den Satz „Ich lachte und küsste sie auf ihren herzallerliebsten Schmollmund“, wo im Original nichts Schmalziges zu vermerken ist: „Je riais, jembrassais son adorable moue“. Hubert Spiegel argumentiert in der FAZ mehrfach mit Stilblüten („Darf ich dir noch was draufgeben?“ / „… und setzte sich auf den Sessel neben mich“ / „bevor die Nacht völlig über uns hereinbricht“), um damit die Autorin zu treffen, die aber in einem normalen, gängigen und korrekten Französisch geschrieben hat: „Je te ressers?“ / „ … et sest assis sur le fauteuil dà côté“ / „avant que la nuit ne soit complètement tombée“.

José Saramago hat einmal gesagt, ohne Übersetzungen gäbe es keine Weltliteratur. Warum nur schaut keiner der Kritiker auf den Übersetzer, bevor er den Autor prügelt oder lobt, wenn es um Sprache und Stil geht?

H. Spiegel kritisiert nicht nur das zweite Buch der Autorin, sondern auch die deutsche Literaturkritik zu Gavalda, indem er wiederum Textpassagen (dieses Mal aus den Kritiken in SPIEGEL, FR, WELT, ZEIT) zitiert, die deren Schreiben loben. Unredlich ist dabei, dass er so tut, als könnten die zitierten Passagen auch diesem Roman gelten, während die kritisierten Kritiker aber allesamt vom ersten Buch Gavaldas sprachen, einer Sammlung kurzer und lakonischer Erzählungen. Verfehlt ist es auch, mit der eigenen Kritik an dem zweiten Buch die vorgängigen Kritiken mit scheinbar psychologischem Nachvollzug der Beweggründe für ein positives Urteil („Was treibt einen Kritiker …“) zu beuteln, während die eigenen, vor allem auf stilistische Merkmale bezogenen Kritik-Belege letztlich an der Autorin und ihrem Text vorbeigehen. Und unehrlich ist es, die Kritiker mit ihren positiven Bemerkungen zum ersten Buch jetzt als dumm hinzustellen, während Hubert Spiegel sicherlich auch andere bereits erschienene negative Einschätzungen gerade zu diesem zweiten Buch kennt.

Es bleibt weiterhin zu hoffen, dass die Literaturkritik in Deutschland ein Buch aus dem Ausland auch als übersetzten Text wahrnimmt und damit auch die übersetzerische Leistung der Kritik für würdig erachtet (in diesem Fall wäre wohl auf eine schlechte Übersetzung hinzuweisen); dass die Presseabteilungen der Verlage auf Anfrage hin dem Kritiker auch Auszüge aus dem fremdsprachigen Originaltext als Kopie bereitstellen (wenn er denn über Stil und Übersetzung schreiben will und sollte). Zu wünschen bleibt auch, dass den Übersetzern hinreichend Zeit gelassen und für ihre Arbeit ein ordentliches, angemessenes Salär gezahlt wird.

Und noch etwas stößt unliebsam auf: die französische Literaturkritik im Zusammenhang mit diesem Roman erscheint in deutscher Kritik als „Fanfarenstöße, die von der Geburt eines neuen Stars kündeten“ (FAZ) und die „generell (sic!) einen Hang zu Sprechblasen aus dem Rosenwasserschaumbad und zu Patschuli-Beweihräucherungen pflegt“ (SZ). Wer von den Rezensenten hat sich denn einmal die Mühe gemacht, die französischen Rezensionen zu diesem Buch einzusehen (z.B. in Le Monde, Le Nouvel Observateur, L’Express, Le Magazine Littéraire u.a., auch z.T. im Internet greifbar) und zu erkennen, dass solche Behauptungen absolut fehl am Platze sind? Dagegen hofft man mit dem besseren (deutschen) Blick, dass es für (deutsch zitierte) Sätze gemäß den obigen stilistischen Beispielen „in der République des Lettres Abzugspunkte im Rentensystem“ geben sollte, und man schreibt entsprechend von einer besorgniserregenden Nettostaatsverschuldung Frankreichs wie vom dürftigen „Nettotextanteil“ des Buchs (SZ). Die deutsche Kritik trifft auf eine „bildhübsche Autorin …, Französin, Anfang dreißig“, verweist auf ein „Süßes Frankreich“ (FAZ) und schreibt hin und wieder ein paar Brocken Französisch in den Text wie „Formidable! Époustouflant! Génial!“ (SZ). Ich habe nun grundsätzlich nichts dagegen, wenn ein Kritiker meint, den Roman in die Rubrik „Schundromane“ einordnen zu müssen, solange er dafür Belege liefert; aber ich frage mich doch, wieso und warum in Haltung und Ton mancher Rezensionen insgesamt weitreichende Frankreich-Stereotypen (frivol, leichtlebig, aufgeblasen, übertrieben, oberflächlich usw. ) auszumachen sind, die ich bei Literaturkritikern für überholt gehalten hatte.

Der Roman von Anna Gavalda gehörte mit weit über 200 000 verkauften Exemplaren zu den 30 meistverkauften Büchern in Frankreich. Erfolg in der Folge eines ersten Erfolgs ist kein Beleg für Qualität, aber auch kein Stigma. Und so einfach kann es sich die Kritik nicht machen mit der pauschalen Aburteilung von „grotesk aufgetragener Banalität“ in den „Niederungen der Erfolgsbücher“ (FAZ), wenn sie zugleich auf eine Einbettung des Romans von Anna Gavalda in einen literarischen Kontext verzichtet, der in Frankreich schon seit mehreren Jahren unter dem Stichwort „Minimalismus“ bedeutend ist. Hierhin gehören Autoren der Éditions de Minuit wie Christian Gailly oder Jean Echenoz, die erstaunlicherweise ebenfalls im Sommer 2002 zusammen mit Anna Gavalda auf der Liste der meistverkauften Bücher in Frankreich standen und die – das sei betont – doch von einem besseren literarischen Format sind als die noch junge Autorin.

Es mag ja sein, dass der Roman von Anna Gavalda schlecht ist; aber seine deutschen Kritiker sind es leider auch.

Anna Gavalda: Ich habe sie geliebt, aus dem Französischen übersetzt von Ina Kronenberger, München: Hanser 2003, 168 Seiten

Anna Gavalda: Je l’aimais. Paris: Le Dilettante 2002, 216 Seiten