Buchcover Many translations but no original
Felix Pütter über Die Übersetzerin von John Crowley, aus dem Englischen übersetzt von André Taggeselle

Was unterscheidet eine gelungene Übersetzung von einer missratenen? Gibt es profundere Kriterien zur Analyse und Würdigung eines in unsere Sprache überführten Textes als kleinliche Bedeutungsklauberei einerseits und großtuerische Stilkritik andererseits? Stellt womöglich die Vorlage, wenn man sie als autonomes Gebilde auffassen kann, somit als Kunstwerk, das seine eigenen Gelingens- und Scheiternsbedingungen definiert, auch ihrer Übersetzung diese Bedingungen? Und schließlich: Kann eine Übersetzung sich selbst, unabhängig von der Vorlage, derartige Kriterien geben? Auf derlei Grundfragen wirft der vorliegende Roman, dessen sich 15 Jahre nach Erscheinen in den USA nun der Golkonda-Verlag und sein Übersetzer André Taggeselle angenommen haben, neues Licht.

Der Autor John Crowley, 1942 geboren, hat sich im Genre der anspruchsvoll-verschrobenen Science-Fiction und Fantasy einen Namen gemacht, weshalb die Handlung des Romans zunächst überrascht. Statt in mittelalterliche oder weit in der Zukunft liegende Welten versetzt er uns gleich mit dem ersten Satz in die Zeit des kalten Krieges.

The first time that Christa Malone heard the name of Innokenti Isayevich Falin, it was spoken by the President of the United States, John F. Kennedy.

Zum ersten Mal hörte Christa Malone den Namen Innokenti Issajewitsch Falin aus dem Mund des US-Präsidenten John F. Kennedy.

Das Beziehungsdreieck im Hintergrund der sich nun entwickelnden Handlung ist damit vorgezeichnet. Christa Malone, genannt Kit, Highschool-Absolventin und angehende Lyrikerin, beginnt ihr Studium am College. Schnell entwickelt sie eine Faszination für ihren Poetikdozenten Falin, einen russischen Dichter, der unter mysteriösen Umständen aus der UdSSR verbannt worden ist.

Falin erwidert diese Faszination bald, und als Kit in einem Ferienkurs Russisch lernt, bittet er sie, ihr bei der Übersetzung seiner Gedichte ins Englische behilflich zu sein. Aus dem intensiven Arbeitsverhältnis – ein ganzes Kapitel im zweiten Teil gleicht einer protokollierten Lektoratssitzung – wird schnell eine Liebesbeziehung. Doch dann eskaliert die Kuba-Krise und Falin, der als exilierter Russe in Amerika immerfort unter Spionageverdacht steht, verschwindet auf so geheimnisvolle Weise, wie er gekommen ist.

Dies ist das Handlungsskelett eines Romans, der mit Nebensträngen, Zeitebenen und philosophischen Abschweifungen nicht geizt, der Coming-of-Age-Geschichte, geschichtsphilosophisches Traktat, College-Roman und metapoetische Reflexion in einem sein möchte und uns über Motivation, Fortgang und Ziel seiner Handlung oft genug im Unklaren lässt.

Keinerlei Unklarheit kann hingegen über Falins eigentümliche, zunächst pessimistisch wirkende Übersetzungsphilosophie bestehen. Als Kit ihm erzählen will, dass sie ein Gedicht von ihm gelesen habe, muss sie sich Folgendes anhören:

“My poem,” he said, “was a poem in Russian. The poem in the book was a poem – perhaps a poem – in English. This I believe you read.”
“Was it a bad translation?”
“I can’t say,” he said.

„Mein Gedicht“, erklärte er, „war ein Gedicht in russischer Sprache. Das Gedicht in diesem Buch ist ein Gedicht – vielleicht ein Gedicht – auf Englisch. Ich glaube, das ist es, was Sie gelesen haben.“
„War die Übersetzung nicht gut?“
„Das kann ich nicht sagen“, erwiderte er.

Als Handlungsanleitung interpretiert, gemahnt diese Übersetzungsskepsis zu äußerster Bescheidenheit; gerade beim Übersetzen von Gedichten hält Falin nichts von gekünstelten Versuchen, Reimschemata zu erhalten, wenn sie sich nicht zufällig ohnehin ergeben. Und so sind die Rohübersetzungen, die Crowley im Buch immer wieder zitiert, auch genau das: schlichte, reim- und geradezu kunstlose, prosaartige Werke, hinter denen man als des Russischen unkundiger Leser die ihnen zugeschriebene immense Wirkung nur vermuten kann.
Doch Falins Programm ist doppelgesichtig: Es hebt die Übersetzung andererseits auch auf eine Stufe mit dem Original, sofern sie sich der Hoffnungslosigkeit ihres Unterfangens bewusst wird.

“[…] You cannot translate. You can only make other poems.”
[…] “Then what’s the original?”
“I don’t know. Perhaps there is not one. Perhaps there are many translations but no original.”

„[…] Man kann sie [die Gedichte, FP] nicht übersetzen. Man kann nur neue Gedichte daraus machen.“
[…] „Aber welches ist dann das Original?“
„Ich weiß es nicht“, sagte er. „Vielleicht gibt es nicht bloß eines. Vielleicht gibt es viele Übersetzungen, aber kein Original.“

Translations without Original, so lautet der Titel von Kits erster Veröffentlichung als Lyrikerin, es wäre eigentlich ein guter Titel für diesen Fass-ohne-Boden-Roman gewesen: Übersetzungen ohne Original. Denn in dieser paradoxen Erkenntnis steckt der Kern des Buches, das um Sprach-, Übersetzungs- und interkulturelle Anpassungsprobleme kreist wie die Übersetzerin um ihren Autor, wie Kit um Falin, wie Kennedy und Chruschtschow umeinander und um diese ihre Berater: Überall Missverständnisse, überall Einsamkeit, überall – als letzte, vergebliche Hoffnung – Übersetzer.

Der Übersetzer, mit dem wir es als Leser der deutschsprachigen Fassung zu tun haben, André Taggeselle, weiß um die Tücke seiner Aufgabe. Er muss, gemäß Falins und Crowleys eigener Philosophie, dem Buch ein zweiter Autor werden. Taggeselle weiß auch um die Probleme seiner Vorlage: Slang-Unterhaltungen der Studierenden, tiefsinnige Konversationen zwischen Falin und Kit, philosophische Spekulationen des Erzählers und nüchterne Politberichte stehen oft unvermittelt nebeneinander.

Der deutsche Text liest sich im Vergleich ebenmäßiger, als hätte der Übersetzer durch die wilden Klüfte des Romans eine fahrbare Straße gelegt. Die stilistischen Extreme im englischen Text nähert er im Deutschen einander an: Die deutsche Erzählstimme versteigt sich nicht so tief in ihre Grübeleien; Kit, ihre Zimmergenossin Fran und ihre kommunistischen College-Freunde sprechen etwas förmlicher und Falins russischer Akzent wird eher angedeutet als konsequent durchgeführt.

Gerade Falin, die unverkennbare Hauptfigur des Romans, ist im Original als schwankender Charakter gezeichnet; manchmal sympathisch, meistens eher unheimlich, mindestens unnahbar, stark charakterisiert durch seinen telegrammartigen Hauptsatzstil (wie in den oben zitierten Dialogbeispielen), aber durch seine nebulöse Vorgeschichte auch unfasslich und seltsam unpersönlich, engelsgleich. Dass Kit diesem Menschen Hals über Kopf verfallen kann, erschließt sich jedenfalls aus dem englischen Roman nicht. Taggeselles Falin, der weicher, zugänglicher, nuancenreicher spricht, ist kein von irgendjemandem eingesetzter dunkler Engel, sondern eine durchaus nahbare Figur, in die man sich mit Kit gemeinsam verlieben kann und über deren Verschwinden man mit ihr trauert.

Insgesamt entsteht auf diese Weise ein gestraffter, unambitionierter, geradezu frugaler Text, der zwar stellenweise ein aufmerksameres Lektorat verdient hätte (das Fehlen sämtlicher Kursivierungen im Fließtext erschwert die Lektüre und auch einige falsche Freunde sind stehen geblieben), aus dem die Konstruktionsschwächen des englischen Texts aber weniger eklatant hervortreten. Taggeselles Planierverfahren opfert die Stilextreme der Vorlage einer geradlinigeren Lesbarkeit und erschafft uns so einen neuen, flüssiger lesbaren Roman.

Darüber hinaus entsteht im Deutschen auch ein überraschender Moment von großer Poesie, wie sie im Englischen nicht möglich war: Taggeselle setzt den Moment, in dem Falin und Kit vom „Sie“ zwischen Lehrer und Schülerin zum „Du“ eines Liebespaars übergehen – ein sprachlich unvermeidbarer, aber übersetzungstechnisch heikler Eingriff –, just kurz vor eine Reflexion von Kit über den Unterschied der alten englischen Anreden „you“ and „thou“. So verweben sich auf fast magische Weise Leben und Dichten der Protagonistin.
Man hält also mit der deutschen Übersetzung einen Text in Händen, der sich – und das ist keine Selbstverständlichkeit – formal auf der Höhe seines eigenen Inhalts bewegt. Wer „Originaltreue“ für das höchste übersetzerische Gut hält, der wird an Taggeselles Interpretation der „Übersetzerin“ wenig Gefallen finden.

Wer aber Falins Lektion beherzigt und der Übersetzung gleichen Rang mit dem „Original“ einräumt (sofern man nach der Lektüre mit diesem Begriff überhaupt noch arbeiten möchte), dem bietet Taggeselles „Übersetzerin“ ein Lektüre-Wagnis, ein Puzzlespiel von verschachtelten Übersetzungsprozessen und ein spannendes Lesevergnügen obendrein. Wenn Falin und Crowley ihre Forderung nach Selbst-Aufgabe und Wagemut im Lesen, Übersetzt-Werden und Übersetzen ernst gemeint haben, dann werden sie uns Taggeselles deutsche Version ihrer Geschichte genauso ans Herz legen können wie die englische.

John Crowley: The Translator. New York City: William Morrow 2002.

John Crowley: Die Übersetzerin. Deutsch von André Taggeselle. München: Golkonda Verlag 2017.

John Crowley, geb. 1942 in Presque Isle (Maine, USA), lebt als Schriftsteller, Produzent und Drehbuchautor in New York. Zudem ist er Dozent an der Yale University. Er hat Romane und Kurzgeschichten verfasst und ist insbesondere als Science-Fiction-Autor bekannt.

André Taggeselle hat Geschichte und Politik in Göttingen und Potsdam studiert. Die Übersetzerin von John Crowley ist sein erster übersetzter Roman.

Felix Pütter lernt in Düsseldorf im MA-Studiengang Literaturübersetzen, aus dem Spanischen und Englischen zu übersetzen. Auf seinem Blog www.klatschundbratsch.wordpress.com veröffentlicht er regelmäßig Übersetzungsrezensionen.

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