Editorial Ausgabe 10
von Vera Elisabeth Gerling

Liebe Leserinnen und Leser!

alle reden davon, doch kaum jemand tut es. Alle würden irgendwie gern, doch im Alltagsgeschäft ist dafür angeblich keine Muße und in den Zeilen kein Platz. Die Argumente sind bekannt und wiederholen sich: Für die Bewertung der Übersetzungen sei im Feuilleton keine Zeit, fehle der schnelle Zugriff auf das Original, seien die jeweiligen Sprachkenntnisse nicht ausreichend und zudem stehe Übersetzungskritik am Ende der Besprechungen und falle schließlich sowieso der Kürzung zum Opfer. Somit könnte man das Ergebnis zweier einschlägiger Veranstaltungen der vergangenen Monate, die sich mit Literaturkritik auch übersetzter Literatur befassten, folgendermaßen resümieren: Übersetzungskritik ist wichtig, kann jedoch nur in der Nische des Internets stattfinden.

Bei den Solothurner Literaturtagen (3.-5. Juni 2010) stellte die Literatur- und Übersetzungskritik unter dem Motto „NetzKritik“ einen der thematischen Schwerpunkte dar. Unsere Zeitschrift wurde dort von unseren Redaktionsleiterinnen Caroline Sauter und Karolin Viseneber präsentiert. Eine noch weitaus differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema fand dann am 24.-25. Juni 2010 im Literaturhaus München bei der Veranstaltung Mit scharfem Blick und feinem Ohr. Von der Sprachkritik zur Übersetzungskritik statt. Unsere Redaktionsmitglieder Katrin Goldenstein, Silke Pfeiffer und Nina Restemeier nahmen dort an verschiedenen Workshops teil und verwiesen auch während der Podiumsdiskussion auf ReLü (siehe Bericht in Buchmarkt.de). Die Spannbreite der dort vertretenen Meinungen zeigt die Extreme der Möglichkeiten auf: Während Burkhard Müller und andere davon ausgehen, Übersetzungen könne man nur beurteilen, wenn man auch die Sprache des Originals perfekt beherrsche, um nicht in die Falle der linguistischen Naivität zu tappen, vertritt Frank Heibert in seinem Workshop eine gänzliche gegenteilige Ansicht: Über die Qualität einer Übersetzung könne man auch urteilen, ohne überhaupt Kenntnis vom Original zu haben, denn die Übersetzung müsse schließlich als deutscher Text funktionieren.

ReLü ist es seit fünf Jahren ein Anliegen, diese Extreme zu verbinden, nämlich in Kenntnis des Originals die deutschsprachigen Übersetzungen hinsichtlich ihrer Stimmigkeit als eigenständige Texte zu beurteilen. Was im Jahr 2005 als Studentenprojekt begann, hat sich inzwischen zu einer in der Branche angesehenen Internetpräsenz gemausert. Neben Buchrezensionen übersetzter Literatur bespricht ReLü nun auch wissenschaftliche Werke zum Übersetzen und bietet mit der Rubrik „Übers Übersetzen“ Interviews, Essays oder Werkstattberichte zum Thema der Übersetzung an. Ausgabe No. 10 erteilt hier schwerpunktmäßig den Übersetzern selbst das Wort. Dabei erfahren wir sowohl von Anja Malich Ernüchterndes über den unplanbaren Arbeitsalltag als auch von Ulrich Blumenbach und Christian Hansen Erhellendes über kreative Freiheiten und nicht zuletzt von Christine Becker Bedenkliches über das Auswahlprozedere des Literaturnobelpreiskomitees.

Der gern zum „Literaturpapst“ gekrönte Marcel Reich-Ranicki ist kürzlich neunzig Jahre alt geworden, ReLü ist gerade erst fünf, feiert aber mit Ausgabe 10 auch einen runden Geburtstag. Und vielleicht beginnt nicht zuletzt durch unser Projekt eine neue Generation der Literaturkritik zu wachsen, die sich des Übersetzt-Seins der Texte aus anderen Sprachen bewusst ist und dieses auch entsprechend würdigt. ReLü macht also weiter, in der festen Überzeugung, mit Übersetzungskritik nicht einfach eine niedliche Nische zu füllen, sondern alternative, aber dringend notwendige Anregungen für bewusstes Lesen zu bieten. Fröhlich, gewissenhaft, engagiert: ReLü eben.

Vera Elisabeth Gerling

für die ReLü-Redaktion

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