Editorial Ausgabe 9
von Nadine Alexander

Liebe Leserinnen und Leser!

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Grenzen von Sprache, aber auch wie gerade Sprache Grenzen zwischen Jahrhunderten und Kulturen überwinden kann – in der neuen Ausgabe der ReLü erwartet Sie beides: übersetzerische Veränderungen ebenso wie übersetzerische Brückenschläge.

Die Grenzen einer originalgetreuen Übersetzung werden in Geneviève Roux-Faucards Poétique du récit traduit ausgelotet. Wie stark sich Erzähler und Erzähltes durch den Übersetzungsprozess auf verschiedenen Ebenen verändern können, welche Konsequenzen dies für die Rezeption der Erzählung mit sich bringt, inwiefern sich die Stimmen von Autor und Übersetzer überlagern und ob letzterer überhaupt Anrecht auf einen eigenen Stil hat – diese und ähnliche Themen behandelt das übersetzungstheoretische Werk, das Katrin Zuschlag in der Rubrik „Wissenschaft“ vorstellt.

Ein konkretes Beispiel für eine solche verändernde Übersetzung findet sich dann auch in der Rubrik „Literatur“: Christine Becker zeigt in ihrer Rezension von Maria Svelands schwedischem Erfolgroman Bitterfotze, wie stilistische Veränderungen der deutschen Fassung einen großen Teil des ungekünstelten Sprachgebrauchs, der Brisanz und des Identifikationspotenzials nehmen, das den Roman in Schweden so populär gemacht hat.

Die Grenzen des französischen Schulsystems sind das Thema von François Bégaudeaus Die Klasse und Daniel Pennacs Schulkummer. Rolf Pütter stellt die Übersetzungen der beiden Romane gemeinsam vor und zeigt dabei, wie Schul- und Sprachprobleme aus mehreren Kulturen aufeinander treffen und von der Übersetzung überbrückt werden müssen.

Keine Grenzen, wenn es darum geht, dem Geist des Originals treu zu bleiben, kennt hingegen der Übersetzer Jochen Schimmang in seiner deutschen Übertragung von Gilbert Adairs And then there was no one, indem er als eigene Romanfigur die postmoderne Spielerei des Autors in der Übersetzung noch weiter pointiert. Auf unterhaltsam-augenzwinkernde Weise kommentiert und subvertiert er so gleichzeitig die literarische Strategie von Autor und Übersetzer, wie Caroline Sauters Rezension von Und dann gab’s keinen mehr zeigt.

Bis an die Grenzen von Sprache treibt David Foster Wallace schließlich seinen deutschen Übersetzer Ulrich Blumenbach mit seinem letzten Roman Unendlicher Spaß. Wie es dennoch gelingen kann, den vielschichtigen Roman aus möglichst vielen Perspektiven zu durchdringen und authentisch wiederzugeben, zeigt Blumenbachs viel beachtete Übersetzung, die in dieser Ausgabe von Radegundis Stolze gemeinsam mit einigen hierzu bereits erschienen Rezensionen in der Rubrik „Übers Übersetzen“ kritisch unter die Lupe genommen wird.

Die stilistischen Herausforderungen, die David Foster Wallaces Infinite Jest an den Übersetzer stellt, verglich Blumenbach in einem Artikel für die FAZ im August 2009 mit der Vielstimmigkeit von Uwe Tellkamps Der Turm – doch das waren nicht die einzigen Schwierigkeiten, vor der Tellkamps Übersetzer standen. Silke Pfeiffer berichtet davon, wie eine internationale Übersetzerriege im Europäischen Übersetzerkollegium Straelen mit dem Autor über die Herausforderung sprach, die Welt jenseits des Eisernen Vorhanges mit ihren sächsischen Regionalismen, versunkenen Kulturrealia und historischen Schlüsselbegriffen in einer fremden Sprache aus den Ruinen der Geschichte wieder auferstehen zu lassen.

Fremde Zeiten und Welten durch Sprache lebendig werden lassen – das war auch die Aufgabe von Claudia Ballhause, als sie die Erzählung El Matadero des Argentiniers Esteban Echeverría rund 170 Jahre nach ihrer Entstehung ins Deutsche übertrug. In ihrem Beitrag berichtet sie, welche Schwierigkeiten und Grenzen sich bei der Übertragung der fest in Sprache und Kontext des 19. Jahrhunderts verhafteten Erzählung auftaten.

Überlegungen zu der Frage, ob man nicht doch manchmal an einen „Limes der Übersetzung“ stößt und inwiefern eine daraus folgende „Unübersetzbarkeit“ letztlich nicht selbst eine Art von Auftrag darstellen kann, stellt schließlich Martin Hainz in seinem übersetzungstheoretischen Essay „In-, De- und Transformation“ an.

Viel Spaß bei der Lektüre der neuen Ausgabe und der Entdeckung, wie Übersetzung entweder an ihre Grenzen stoßen oder diese überwinden und damit manchmal sogar ganz neue Welten eröffnen kann, wünscht

Nadine Alexander

für die ReLü-Redaktion

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