Buchcover Die Tochter als „Übersetzung“ des Vaters?
Nina Restemeier über Fun Home von Alison Bechdel, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sabine Küchler und Denis Scheck

Eine ungewöhnliche Autobiographie, verfasst in einem ungewöhnlichen Medium, präsentiert Alison Bechdel mit ihrem Comic Fun Home. Alison ist neunzehn, als ihr Vater ums Leben kommt. War es ein Unfall oder Selbstmord? Wenige Monate zuvor hatte Alison sich ihren Eltern gegenüber als lesbisch geoutet und erfahren, dass auch ihr Vater homosexuell ist. Hat er sich das Leben genommen, weil es seiner Tochter gelungen ist, offen mit etwas umzugehen, das er selbst jahrelang verheimlichen musste? Die Vermutung liegt nahe, doch letztlich muss diese Frage offen bleiben.

Auf 232 Seiten erzählt Alison Bechdel die Geschichte einer Kindheit und Jugend im ländlichen Pennsylvania der Sechziger- und Siebzigerjahre und zeichnet im wahrsten Sinne des Wortes das Bild einer außergewöhnlichen Familie. Da ist der cholerische Vater, dessen Liebe eher der Renovierung und Dekoration seines alten Hauses als seiner Familie gilt und der „seine Möbel wie Kinder und seine Kinder wie Möbel“ behandelt; die Mutter, die als Schauspielerin und Pianistin die Bestätigung findet, die sie in der Ehe nicht bekommt; Alison, die schon als Kind nicht von ihrem Vater in Mädchenkleider gesteckt werden und lieber kurze Haare statt Haarspangen tragen möchte. Da sind die ungezwungenen Spiele der Kinder im familieneigenen Bestattungsinstitut („Funeral Home“ – von den Kindern „Fun Home“ genannt), die seltenen, rührenden Momente von Wärme und Nähe innerhalb der Familie. Und das alles in liebevoll gezeichneten Bildern, deren zahlreiche Details zu entdecken eine wahre Freude ist.

Bechdels Erzählweise und ihre Komposition von Bild und Text sorgen dafür, dass Fun Home alles andere als ein trivialer Comic ist, und so erscheint das Werk auch in keinem Comic-Verlag, sondern bei Kiepenheuer und Witsch in der Sparte Romane. Die Erzählung wechselt so stürmisch zwischen den verschiedenen Zeitebenen Kindheit, Jugend, Studentenzeit und sogar den Jahren vor Alisons Geburt hin und her, dass so manches Mal erst ein Blick auf Alisons Frisur oder ihr mal mehr und mal weniger kindliches Gesicht verrät, an welchem Punkt der Geschichte wir uns gerade befinden. Hinzu kommen unzählige Anspielungen auf Literatur und Mythologie, die das Werk ausgesprochen komplex machen. Diese finden sich auf verschiedenen Ebenen. Zum einen auf der Ebene der Figuren, insbesondere der des Vaters, der sich in den Briefen an seine zukünftige Frau mit Figuren aus den Werken seines Lieblingsautors Fitzgerald identifiziert. Zum anderen auf der Ebene der Erzählung, wenn Bechdel Parallelen zieht zwischen ihrem Vater und Marcel Proust, ihrer Mutter und der Heldin aus Henry James‘ Bildnis einer Dame, ihrem eigenen Leben und der Odyssee, ihrer Beziehung zu ihrem Vater und der von Stephen Dedalus zu Leopold Bloom.

Wie Fun Home laut Klappentext „ein Meisterwerk der Comic-Kunst“ darstellt, so grandios ist auch die Übersetzung von Sabine Küchler und Denis Scheck. Hier wird deutlich, dass nicht immer die grammatikalisch nächstliegende Übersetzung die beste Wahl ist. Sie gehen bemerkenswert frei mit dem Original um und erweisen ihm auf diese Art den größten Respekt, übersetzen niemals wörtlich und treffen so immer den richtigen Ton. Zum Beispiel bemerkt Alisons Mutter angesichts der Angewohnheit im Dorf, sich ein Haus auf dem Grundstück der Eltern zu bauen: „Don’t you kids get any ideas about dragging a trailer into the backyard. After you graduate from High School I don’t want to see you again.” Die deutsche Übersetzung ist da um einiges knapper, ohne dass ihr etwas Entscheidendes fehlen würde: „Wehe, ihr macht euch auch noch hier breit. Seht bloß zu, dass ihr Land gewinnt, wenn ihr mit der High School fertig seid.“

Das Genre Comic setzt aufgrund seiner Dialoglastigkeit einen versierten Umgang mit gesprochener Sprache voraus, den die Autorin wie die Übersetzer gleichermaßen beherrschen. Die deutsche Übersetzung wirkt nie gezwungen – im Gegenteil, an einigen Stellen übertrifft sie das Original sogar noch an Umgangssprachlichkeit, z.B. wenn Alison ihren jüngeren Bruder anraunzt: „Nimm deine Kackstelzen da weg!“ („Get your stinkin‘ feet away from me“). Auch der Oma, die im Original mit stark dialektaler Färbung spricht („wunst upon a time…“), wird eine eher umgangssprachliche Aussprache in den Mund gelegt: „…da isser weggelaufen“.

Mitunter werden kleinere inhaltliche Veränderungen vorgenommen, um dem Humor des Originals gerecht zu werden. Dort heißt es über Alisons Mutter: „She could also play astonishing things on the piano, even the music from the Downy commercial on TV“, während auf dem Klavier die Noten von Chopins Grande Valse Brillante aufgeschlagen sind. In der Übersetzung steht dort Puccinis Tosca, und die Mutter kann „erstaunliche Sachen auf dem Klavier spielen, sogar die Musik aus der Avon-Werbung im Fernsehen.“ Analog dazu fragt die kleine Alison später ihre klavierspielende Mutter: „Did Chop-in write Chopsticks?“ (ein simpler Walzer für Klavier, etwa mit dem Flohwalzer zu vergleichen), und auf Deutsch: „Hat Puckini die Zuckini erfunden?“, wodurch zwar der Witz auf der musikalischen Ebene verloren geht, aber die Assoziation aufgrund der falschen Aussprache des Namens gerettet wird.

Auch die zitierten Bücher werden teilweise an die deutschen Lesegewohnheiten angepasst. Aus den Hardy Boys im Original werden in der Übersetzung die einem deutschen Leser vermutlich eher bekannten Drei Fragezeichen, Alisons Mutter liest ihrer Tochter auf deutsch den Raben von Edgar Allan Poe vor anstatt Esther Forbes Johnny Tremain.

Lediglich eine Übersetzungsentscheidung wäre zu diskutieren. In einem Telefongespräch mit ihrer Mutter erfährt Alison von den homosexuellen Affären ihres Vaters und fragt: „Why are you telling me this and not Dad?“ Übersetzt wurde diese Stelle mit: „Warum redest du mit mir und nicht mit Dad?“ Viel entscheidender ist für Alison aber vermutlich die Frage, warum sie diese Nachricht von ihrer Mutter erfährt und nicht von ihrem Vater. „Warum erzählt er mir das nicht selbst?“ wäre hier die treffendere Lösung gewesen.

Das Problem der Übersetzung wird auch in Fun Home selbst thematisiert: „Nach Dads Tod erschien eine überarbeitete Übersetzung von Proust: Remembrance of Things Past hieß nun In Search of Lost Time. Zwar ist der Titel eine wörtlichere Übersetzung von A la recherche du temps perdu, aber auch ihm gelingt es nicht, alle Nuancen von perdu zu transportieren. Perdu heißt nicht nur verloren, sondern auch ruiniert, vertan, verschwendet, zerstört und verdorben.“ In der direkt darauf folgenden Szene betrachtet Alison zwei Fotos, eines von sich und eines von ihrem Vater, und hat dabei die Assoziation, eine Übersetzung ihres Vaters zu sein: „War der Junge, der es aufnahm, sein Geliebter? So wie das Mädchen, das an meinem einundzwanzigsten Geburtstag dieses Polaroid von mir machte, meine Geliebte war? Die Kulisse, das gequälte Grinsen, wie ungeschickt unsere Hände wirken, selbst der Einfallswinkel des Schattens auf unseren Gesichtern – viel genauer kann eine Übersetzung kaum ausfallen.“

„It’s about as close as a translation can get“ – das gilt für Fun Home und seine deutsche Übersetzung ganz genauso.

Alison Bechdel: Fun Home, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Sabine Küchler und Denis Scheck, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2008, 239 Seiten

Alison Bechdel: Fun Home, New York: Mariner Books 2007, 232 Seiten

Alison Bechdel wurde 1960 in Pennsylvania geboren und lebt heute in Vermont. Seit 1983 erscheint ihre Comicstrip-Serie Dykes to watch out for über das (Liebes-)Leben einer Gruppe lesbischer Frauen regelmäßig in zahlreichen US-amerikanischen Zeitschriften und Sammelbänden, von denen einige auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Ihre Autobiographie Fun Home, für die sie diverse Auszeichnungen erhielt, machte sie einem breiteren Publikum bekannt.

Sabine Küchler ist Redakteurin beim Deutschlandfunk und Verfasserin von Lyrik, Erzählungen und Hörspielen. Sie wurde unter anderem mit dem Förderpreis zum Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg und dem Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge Künstlerinnen und Künstler ausgezeichnet. Sie übersetzte (gemeinsam mit anderen) Leb wohl lila Sommer. Gedichte aus Russland (2004) und mit Denis Scheck Alison Bechdels Comic Fun Home (2008).

Denis Scheck, geboren 1964, ist unter anderem als Übersetzer, Herausgeber und Literaturkritiker tätig. Er ist Literaturredakteur beim Deutschlandfunk und moderiert die ARD-Sendung „druckfrisch“. Denis Scheck ist dafür bekannt, in seinen Kritiken immer auch auf die Qualität der Übersetzung einzugehen. Dafür und für seinen Einsatz für die Belange der Literaturübersetzer wurde er 2007 mit der „Übersetzerbarke“ des VdÜ ausgezeichnet.