Buchcover Der Gewalt entkommt man nicht poetisch
Stefanie Hattel über Schrei! von Hélène Duffau, aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große

Ich, ich und wieder ich. Ich kann nicht, ich mag nicht, ich will nicht. Das unversöhnliche Nein der Erzählerin, ihr permanentes Kreisen um sich selbst quält den Leser. Mehr noch aber quält es die Erzählerin. Denn ihr wurde Gewalt angetan. Seit jene Männer über sie herfielen, klafft ein Riss zwischen ihr und den anderen wie eine offene Wunde. Aus ihrer hermetisch abgeriegelten Wohnung sieht sie starr nach draußen. Abscheu und Misstrauen verstellen ihr den Blick. Den Blicken anderer, die Einvernehmen bedeuten oder Interesse bekunden könnten, entzieht sie sich. Sie bleibt für sich.

Der Gewalt entkommt man nicht poetisch, man kann ihr nur nüchtern begegnen. Die Erzählerin tastet sich langsam heran. Das Grauen jener Nacht ist in ihrem Kopf immer präsent, auf dem Papier spart sie es aus. Sie will keine Bilder, die das Erlittene aufleben lassen. Sie will sich der Macht ihrer inneren Bilder entziehen. So wählt sie die Abstraktion. Ihre Sprache ist kalt und dennoch atmosphärisch. Das Stakkato der Rumpfsätze prägt sich dem Leser ein: ein harter Rhythmus aus kurzen, präzisen Schlägen – eindringlich wie der Beat der Rockgruppen, die Hélène Duffau zu Beginn ihrer Kapitel zitiert. Limp Bizkit, Iggy Popp, Godfathers, auch sie verschaffen sich eher durch die Brutalität ihrer Worte denn durch Musikalität Gehör. Die Kürze der Sätze zersetzt die Sprachmelodie. Gedanken werden nicht zu Ende geführt, sondern brechen abrupt ab, ehe sie den Kern berühren, um dann, um einen Schlag verzögert, neu anzusetzen, und, um ein Detail ergänzt, den Kern zu streifen: „Ich fürchte den Halt zu verlieren. Falsch angesehen zu werden. Mit lüsternen Augen. Als Komplizin. Mit einem Blick, der mich trifft. Der in mir wühlt nach einem Einverständnis, das es nicht gibt.“

Falsch angeblickt zu werden ist die eigentliche Grausamkeit. Der stumpfe Blick, den die anderen auf sie richteten, hält ihr ein amputiertes Spiegelbild vor, das sich nicht mit ihrem Selbstbild decken will. Davon geht die wahre Bedrohung durch die anderen aus: Man ist nichts, wenn es die anderen nicht anerkennen. „L’enfer, c’est les autres“.

Da das Trauma längst Einzug in ihr Leben gehalten hat, richtet sie sich mit ihm ein. Kraft der Abstraktion ist es der Erzählerin gelungen, sich der Gedankenbilder zu entziehen. Aus ihrer Haut kann sie trotzdem nicht. Ihr Körper ist ihr ein unumstößliches Mahnmal. So entwickelt sie einen grotesken Körperkult. Kulinarisches und Düfte sind ihre einzigen Sinnenfreuden, mit perfider Akribie erfindet sie ausgefallene Rezepturen. Auch hier steckt der Teufel im Detail: Ihren Kosmetika und Kochkünsten verleiht die Zutat konservierten Ejakulats anonymer Liebhaber ihre persönliche Note. Das ist der äußerste Grad ihres Einswerdens mit anderen.

Das Missverhältnis zwischen sich und den anderen gibt die Linie ihrer Selbstanalyse vor. Gegensatzpaare und Wechselverhältnisse prägen den Gedankengang: „geben“ und „nehmen“, „Angebot und Nachfrage“ – ihr Verhalten ist nur eine Reaktion auf das Verhalten anderer. So verleiht das Französische mit seiner klaren Struktur dem Abstraktionsvermögen der Erzählerin Kontur. In weitfassenden Worten entzieht sie den inneren Bildern ihren Grund, windet sich in Metaphern und hebt die Bilder in immer entlegenere Bereiche. „Liebkosung, Umarmung … Kuss. Wörter der Alltagssprache, deren Bedeutung und Reiz mir verschlossen bleiben. Der Schlüssel … fehlt mir. Mir fehlt die Gebrauchsanweisung für das Spiel, das sich daraus ergibt.“ Methodisch verkehrt sie den Sinn allen Tuns und Denkens in sein Gegenteil: „posseder“ – „déposseder“, „avantage“ – „desavantage“. Die französische Erzählerin hält sich an klaren Strukturen fest und den Gehalt ihrer Worte auf Distanz. Das Deutsche hingegen kommt dem Leser in der Bildlichkeit der Übersetzung sehr viel näher. Der französische Roman scheint für Brigitte Große maßgefertigt. Ihre preisgekrönte Übertragung des Essays Als Freud das Meer sah. Freud und die deutsche Sprache von Georges-Arthur Goldschmidt (Amman, 1999) illustriert dessen These vom Deutschen als idealem Sprachfundus der Psychoanalyse, da es in seiner Anschaulichkeit das Unbewusste unverstellt zur Sprache bringe und so dem unmittelbaren Verstehen entgegenkomme, während das Französische ihm „mit vielleicht mehr historischer Geschliffenheit“ verhaltener begegne. Brigitte Große setzt auf die bestürzende Konkretheit ihrer Worte und macht das Trauma anschaulich. Bilder von Männern, die „Besitz ergreifen“ („s’approprier“), „sich aufdrängen“ („s’imposer“), und einer Frau, die „überwältigt wird“ („est dépassée“), all das „nicht leiden kann“ und aufschreit: „Ich werde nicht gern übermannt“ („Je n’aime pas l’invasion“), ziehen vor den Augen des Lesers vorbei, der vor der Sprachgewalt des Deutschen schaudert. Was der Erzählerin so schmerzlich fern liegt, geht dem Leser umso näher. „Einvernehmen“, „Einverständnis“ und „Einklang“ – fast anaphorisch ziehen sich diese Worte durch den Text und machen nachvollziehbar, was die Erzählerin so kategorisch von sich weist, weil sie es nicht erreichen kann: Eins sein mit jemandem. „Connivence“, „complicité“ und „accord“, wie es im Original heißt, bleiben hinter dieser Eindringlichkeit zurück. Brigitte Großes Übersetzung der psychologischen Analyse verlagert das Trauma auf eine Sprachebene, die dem unbewussten Erleben näher liegt. Das Französische und das Deutsche gehen verschiedene Wege, doch beide kommen an.

Hélène Duffau: Schrei!, aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große. Frankfurt am Main: Eichborn 2005, 113 Seiten

Hélène Duffau: Trauma. Paris: Gallimard 2003, 135 Seiten

Hélène Duffau, 1965 in Mont-de-Marsan geboren, lebte zehn Jahre lang in Paris und London. Heute ist sie in der Region Toulouse zu Hause. Trauma ist ihr erster Roman. 2005 erschien bei Gallimard bereits ihr zweiter Roman Combat, der bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde.

Brigitte Große studierte Philosophie und Musikwissenschaft in Wien, Psychologie und Soziologie in Hamburg und arbeitet seit 1996 als freie Übersetzerin vor allem aus dem Französischen in Hamburg. Zu „ihren“ Autoren zählen Frédéric Beigbeder, Amélie Nothomb, Georges-Arthur Goldschmidt oder Fatou Diome, deren Roman Le ventre de l’Atlantique ReLü in Ausgabe 1/2005 vorstellte.