Editorial Ausgabe 1
von Caroline Grunwald

Liebe Leserinnen und Leser!

„Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn“, so ein Gedanke bei Jorge Luis Borges. Denken mit fremdem Gehirn? Das klingt reizvoll, spannend, abenteuerlich, jedoch stößt ein deutscher Leser, zumindest bei übersetzter Literatur, vermutlich schnell an die eigenen Grenzen: Sind doch in einem fremden Gehirn nicht bloß aufregende, fremde Gedanken, sondern in erster Linie fremde Sprachen enthalten. Schrieb Borges etwa deutsch? Nein, aus Borges’ Mund würde dieselbe Aussage vielmehr lauten: „Leer es pensar con un cerebro ajeno.“

Wilhelm von Humboldt sagt: „Und jede Sprache bildet eine eigene, subjective Weltansicht.“ Verwirrende Vielfalt: Sprache, Denken, Weltansicht, Subjektivität. Gut, dass es Übersetzungen gibt. So scheint auch der deutsche Leser mit spanischem Gehirn denken zu können. So einfach ist das?

Nein – hier tut sich die Frage auf, wie überaus kompetent Übersetzende sein müssen, um fremde Gedanken, eine fremde Sprache, eine fremde Weltansicht und eine fremde subjektive Wahrnehmung so anzupassen, dass deutsche Leser, die die fremde Originalsprache nicht perfekt beherrschen, die Gehirnwindungen eines fremdsprachigen Autors dennoch nachvollziehen können. Damit kommt dem Übersetzer eine gewichtige Aufgabe zu: Mit seiner Übersetzung steht und fällt, was der Autor in unserer Literatur ist.

„Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die eben grad mein banges Ohr durchdrang.“ Sie zitieren Shakespeares Romeo und Julia? Nein, Sie zitieren Romeo und Julia in der Übersetzung von Schlegel und Tieck. Und unzählige andere – Wieland, George, Frank Günther, sogar der berühmte Goethe – verleihen dem Text, der Shakespeares Gehirn entstammt, unter Umständen einen ganz anderen Ausdruck, eine andere Struktur und einen anderen Stil.

Wer schreibt nun also den Text? Wer gibt dem Erzähler seine Stimme? Wer ist verantwortlich für Verständlichkeit und Qualität des deutschen Textes? Offenbar wer den Originaltext übersetzt. Seltsam nur, dass der oder die Übersetzende so oft in Vergessenheit gerät. Mehr als die Hälfte aller Literatur auf dem deutschen Markt ist übersetzt, doch Literaturkritiken betreiben fast nie Übersetzungskritik. Diese Lücke möchte ReLü füllen, indem sie übersetzte Literatur rezensiert und dabei die Übersetzung kommentiert.

Mit fremdem Gehirn zu denken erfordert Einfühlungsvermögen und große Sprachsensibilität. Das Lesen übersetzter Texte ist vielleicht durchaus ein Denken mit fremdem Gehirn, doch folgt man dabei vermutlich eher den Gehirnwindungen des Übersetzers, des deutschsprachigen Autors.

In diesem Sinne viele neue Entdeckungen bei der Lektüre von ReLü wünscht Ihnen

Caroline Grunwald für die ReLü-Redaktion

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