Buchcover Adieu, du komischer Vogel
David Schahinian über Der Fänger im Roggen von Jerome D. Salinger, aus dem amerikanischen Englischen von Irene Muehlon (1954), Heinrich Böll (1962) und Eike Schönfeld (2003).

Kaum ein Satz aus Jerome D. Salingers weltberühmtem Roman Der Fänger im Roggen, im Original The Catcher in the Rye, beschreibt den Autor wie auch die Eigenheiten der deutschen Übersetzungen treffender als dieser: „Adieu, du komischer Vogel.“ Ein komischer Vogel, zumindest nach den heute im Literaturgeschäft gängigen Maßstäben, war Salinger ohne Zweifel. Ein einziger, 1951 veröffentlichter Roman genügte, um ihm zu lebenslangem Weltruhm zu verhelfen. Je größer das Interesse an seinem Werk wurde, desto mehr wurde der Autor zum Phantom. 1965 erschien seine letzte Erzählung, nachdem er sich bereits 1953 weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Seine Scheu vor Journalisten und Fans wurde zum Running Gag der Biografen: Wer sich dem Anwesen näherte, so wird kolportiert, wurde schnell mit Gewehrschüssen verjagt. Abgeschottet, zurückgezogen hinter hohen Mauern, soll Salinger bis zu seinem Tod mit 91 Jahren am 27. Januar 2010 im amerikanischen Städtchen Cornish gelebt haben: „Adieu, du komischer Vogel“.

Der Fänger im Roggen handelt von dem 17 Jahre alten Holden Caulfield, der in einem Sanatorium sitzt und sich daran erinnert, wie er kurz vor Weihnachten des Vorjahres von der Schule geflogen war und kurzerhand Reißaus genommen hatte. Salingers einziger Roman avancierte rasch zum modernen Klassiker und Kultbuch, und das bei Weitem nicht nur unter Jugendlichen. Unter anderem vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass Generationen von deutschen Lesern mit Übersetzungen vorlieb nehmen mussten, die nicht nur aus heutiger Sicht erhebliche Mängel aufwiesen.

Einer ersten Übersetzung der Schweizerin Irene Muehlon, 1954 im Diana-Verlag unter dem Titel Der Mann im Roggen erschienen, war kein kommerzieller Erfolg beschieden. Grund genug für den Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch, den deutschen Schriftsteller und Übersetzer Heinrich Böll mit einer Überarbeitung der Muehlon’schen Übersetzung zu beauftragen. Wohlgemerkt handelte es sich hierbei nicht um eine Neuübersetzung: Bölls 1962 erschienene Fassung Der Fänger im Roggen stimmt in weiten Teilen mit der Vorlage von Muehlon überein. Und beiden diente nicht die amerikanische Originalausgabe, sondern die zensierte und bereits mit mehreren hundert Änderungen versehene englische Ausgabe des Verlags Hamish Hamilton als Übersetzungsvorlage. In dieser waren in erster Linie die Vulgarismen getilgt, gekürzt oder durch Auslassungspünktchen verschleiert worden, andere Aspekte wie Satzbau oder Grammatik waren von dieser Zensur jedoch kaum betroffen.

All das war bekannt, und dennoch dauerte es 41 Jahre, bis Kiepenheuer & Witsch im Jahr 2003 eine Neuübersetzung veröffentlichte. Sie war aus Rücksicht auf den sensiblen Autor und die Böll-Erben immer wieder hinausgezögert worden. Der Verlag beauftragte den erfahrenen Übersetzer Eike Schönfeld mit einer Neuübersetzung des Fängers im Roggen. Er erwies sich als Glücksgriff, vielleicht sogar gerade weil er das Buch zuvor nicht gelesen hatte. So konnte er unvoreingenommen ans Werk, dieses Mal das ungekürzte Original, gehen.

Zwischen der Fassung von Muehlon und der Neuübersetzung durch Eike Schönfeld liegen also rund 50 Jahre. Eine lange Zeit, in der sich grundlegende Tendenzen im Sprachwandel festmachen lassen. In der Regel vollzieht sich der sprachliche Wandel im Wortschatz am schnellsten. Nicht nur, aber vor allem hier zeigt sich bei Muehlon/Böll einerseits und Schönfeld andererseits eine grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweise an den Text. Zudem standen literarische Konventionen der 1950er/60er Jahre in den frühen Übersetzungen eindeutig im Vordergrund. Dass dies zu Schwierigkeiten beim unentwegt fluchenden und schimpfenden Holden Caulfield führen musste, ist kein Wunder. Die Toleranz in Bezug auf Schimpfwörter war zu damaligen Zeiten noch lange nicht so ausgeprägt wie heute, und schon das amerikanische Original rief vor allem aufgrund des streckenweise ordinären Sprachstils, der derben Jugendsprache und der damit verbundenen Kritik an der Welt der Erwachsenen viele Kritiker auf den Plan. Eine derart deftige Sprache wäre in einer deutschen Übersetzung aufgrund der literarischen Konventionen der frühen 1960er-Jahre kaum denkbar gewesen. Michael Schmitt charakterisierte in der Onlineausgabe der Neuen Zürcher Zeitung den Ton der frühen Fänger-Übersetzungen folgendermaßen: „Man denkt dann an Vespas und an Peter Kraus; man sieht ein, dass es seinerzeit wohl nicht anders sein konnte, aber man ahnt auch, was damit verschenkt werden musste.“

Dass sich der Wortschatz ändert, kann viele Gründe haben. Gesellschaftlicher Wandel oder technischer Fortschritt zählen dazu. Drehte man das Licht oder das Radio früher beispielsweise noch an oder aus, wie Böll schreibt, wird es bei Schönfeld „angeknipst“ beziehungsweise „angemacht“, bei Salinger ist von „turn on“ beziehungsweise „play the radio“ die Rede. Noch deutlicher wird es beim Telefon: In den beiden frühen Übersetzungen wird der Hörer analog zum Original, wo es „hang up“ heißt, noch „aufgehängt“, bei Schönfeld wird er „aufgelegt“.

Manchmal sind Beschreibungen in den frühen Übersetzungen aber auch schlicht nicht mehr zeitgemäß. Unfreiwillig komisch wirkt im Fänger Bölls „Erbrech-Taxi“ für Salingers „those vomity kind of cabs“, erst bei Schönfeld wird daraus ein verständlicheres „verkotztes Taxi“. Diese „derben Sachen“ habe er, wie Eike Schönfeld in einem Interview bekannte, bewusst drastisch belassen. Und genau das macht einen Teil der Qualität seiner Übersetzung aus. Oder kann sich jemand vorstellen, dass pubertierende Jugendliche sich gegenseitig mit „Schweig!“ zurechtweisen, wie es die Internatszimmergenossen Holden und Stradlater Böll zufolge tun? „Halt die Klappe“ klingt nach einer realistischeren Übersetzung von „Now, shut up“, wie es im amerikanischen Original heißt. Regelrecht liebevoll liest sich die bereits bekannte Floskel „Adieu, du komischer Vogel.“ Man ist dazu verleitet, von einem Übersetzungsfehler zu sprechen. Denn die Person, die sich von Holden mit diesen Worten verabschiedet – im Original gibt sie ihm ein „So long, crumb-bum“ mit auf den Weg –, raubt ihn im weiteren Verlauf der Handlung aus. Dass das Verhältnis der beiden schon vorher zerrüttet war, erkennt man erst bei Schönfeld. Dort verabschiedet sie sich mit einem viel deutlicheren „Bis dann, du Arschgeige“.

Überhaupt, diese sprachlichen Bilder. Sie spielen in Salingers Roman eine große Rolle und wurden bei Muehlon und Böll oftmals bis zur Unkenntlichkeit entschärft. Als 2003 die Neuübersetzung erschien, fiel vielen Rezensenten erst auf, wie „anbiedernd“, so Michael Schmitt in der Neuen Zürcher Zeitung Online, oder „zimperlich und prüde“, wie Rainer Dorner im Hessischen Rundfunk befand, die Fassung war, die mehr als 40 Jahre lang in Deutschland gelesen wurde. Eine Entwicklung fällt dabei besonders ins Auge: Es werden mehr Vergleiche bemüht als früher. Sie sind ein typisches Merkmal der Übersetzung von Schönfeld, denn selbst im Original sind sie meist nicht vorhanden. Der Text wird dadurch zum einen lebhafter und facettenreicher. Zum anderen wird die Aufmerksamkeit des Lesers durch einen sachfremden Bezug geweckt oder aufrechterhalten, etwa, wenn ein Charakter als „dumm wie die Nacht“ beschrieben wird. Im Original hat die Dummheit nahezu körperliche Auswirkungen, denn die Figur „didn’t know his ass from his elbow“. Böll übersetzte das fast wörtlich und sah in der Person jemanden, der „seinen Hintern nicht mehr von seinem Ellbogen unterscheiden konnte“.

Der Zweite Weltkrieg hat in Salingers Leben und in seinem Werk Spuren hinterlassen: Er war Soldat in der US-Army und nahm am 6. Juni 1944 an der Landung in der Normandie teil; nach Kriegsende war er wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in Behandlung. Militärische Leitmotive kommen in vielen seiner wenigen veröffentlichten Texte vor, sie finden sich auch zuhauf im Fänger im Roggen, an dem er bereits längere Zeit vor der Veröffentlichung 1951 arbeitete. In den deutschen Übersetzungen der Nachkriegszeit finden sich militärische Bezüge nicht nur motivisch, sondern auch sprachlich: Bei Muehlon/Böll wird etwa „der Frieden gestört“, zum „Abschiedsbesuch angetreten“ oder das „Feld geräumt“. Bei Salinger heißt es hier schlicht: „He just wanted me to quit reading and enjoying myself“, „stopped by to say good-bye to him“ und „She left.“ In der Schönfeld’schen Übersetzung sind Ausdrucksweisen, die ihren Ursprung im Militärischen haben, nahezu verschwunden. Heute wird „der Spaß verdorben“, „vorbeigekommen, um sich zu verabschieden“ oder schlicht „gegangen“. Vermutlich ist den meisten Lesern und auch manchem Übersetzer der militärische Kontext der ursprünglichen Bezeichnungen gar nicht sofort bewusst. Dass sie, um im Bild zu bleiben, auf dem Rückmarsch sind und heute keine größere Rolle mehr spielen, kann als gutes Zeichen interpretiert werden.

Aber egal, kommen wir zur Phraseologie und so. Haben Sie eben ob der ungewöhnlichen Formulierung gestutzt? Phrasen und Unsicherheitsfloskeln, sogenannte Hedges, sind typisch für Holden Caulfields Sprachstil. Sie lassen die jugendliche Sprache authentischer erscheinen, vermitteln durch ihre ständige Wiederholung aber auch die Schwierigkeiten des Protagonisten, seine Gefühle in adäquaten Worten auszudrücken. Böll ignorierte sie an sehr vielen Stellen, vermutlich, da sie nicht den literarischen Konventionen seiner Zeit entsprachen. Eine Fehlentscheidung, denn die Hedges sagen enorm viel über den Charakter der Hauptfigur aus. Schönfeld hingegen korrigiert Caulfields Sprache nicht. So gibt er dem Roman viel von seinem ursprünglichen und kratzbürstigen Charme zurück. Manche Phrasen und Hedges kommen bei Schönfeld bis zu achtmal häufiger vor als bei Böll und Muehlon. „Das macht mich fertig“, schreibt Schönfeld beispielsweise 39-mal, während Böll es bei neun „Das wirft mich um“ belässt. Bei Salinger klingt das übrigens noch drastischer: „That kills me.“ Mit „…irgendwie…“, der deutschen Entsprechung von Salingers „…sort of…“, sucht Holden Caulfield bei Schönfeld 153-mal nach treffenden Formulierungen. Böll verwendet den Begriff in diesem Zusammenhang lediglich an 18 Stellen.

Übersetzern steht ein weiteres mächtiges Werkzeug zur Verfügung, damit bei der Übertragung in eine andere Sprache möglichst wenig Feinheiten verlorengehen: der Satzbau. Sätze, die vom üblichen Subjekt-Verb-Objekt-Aufbau abweichen, erzielen eine nachdrücklichere Wirkung. Bölls Übersetzung belässt es aber oftmals bei dieser klassischen Wortstellung und beraubt die handelnden Personen damit vieler unterschiedlicher Stimmungen. Sein Ausdruck „Das war eine herrliche Versammlung“ für Salingers „What a deal that was“ klingt nach allem anderen als einer herrlichen Versammlung. Bei Schönfeld ist durch die Voranstellung des Verbs zu einem sogenannten Stirnsatz mehr Emotion im Spiel: „War das ein Aufstand.“

Auch darüber hinaus setzt Eike Schönfeld in seiner Übersetzung Merkmale mündlicher Kommunikation rigoros in die Schriftsprache um. „Warum musst Du Licht haben?“, fragt ein Schulkamerad Holden Caulfield bei Böll. Bei Schönfeld liest sich das authentischer: „Wozu willst’n Licht?“ Durch die Auslassungen und Kontraktionen nähert er sich dem umgangssprachlichen Ton des Originals an: „Wuddaya want the light for?“, wird dort geblafft.

Hier wird der große Unterschied zwischen den beiden alten und der neuen Übersetzung noch einmal sehr deutlich: Muehlon/Böll und Schönfeld orientierten sich an grundsätzlich verschiedenen Stilformen. Während erstere den Konventionen der Literatursprache treu blieben, arbeitete letzterer viele Elemente einer modernen Umgangssprache in seinen Text ein. Eine bewusste Gratwanderung, wie mir Eike Schönfeld mitteilte: „Ich sehe Holdens Sprache gar nicht so sehr als Jugendsprache, eher als eine ziemlich heftige Umgangssprache. Deshalb und auch, um das Buch nicht allzu ’neu‘ klingen zu lassen, habe ich neueren Jugendslang (‚voll geil‘ usw.) bewusst vermieden.“ Durch den dezidierten Einsatz der Umgangssprache ist seine Übersetzung den heutigen Lesern viel näher. Das soll die Leistung von Muehlon und Böll nicht schmälern, denn eine Übersetzung ist nicht zuletzt auch von dem zeitgenössischen Umfeld des Übersetzers abhängig.

Jerome D. Salinger: The Catcher in the Rye, New York: Little, Brown & Company 1991, 224 Seiten.

Jerome D. Salinger: Der Mann im Roggen, übersetzt von Irene Muehlon, Stuttgart/Konstanz: Diana-Verlag 1954, 290 Seiten.

Jerome D. Salinger: Der Fänger im Roggen, übersetzt von Irene Muehlon, überarbeitet durch Heinrich Böll, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1962, 270 Seiten.

Jerome D. Salinger: Der Fänger im Roggen, übersetzt von Eike Schönfeld, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, 269 Seiten.

Jerome D. Salinger (1919-2010) veröffentlichte 1940 seine erste Kurzgeschichte. 1942 trat Salinger in die US-Armee ein und erlebte u.a. den D-Day. Nach seiner Rückkehr in die Staaten schrieb er Kurzgeschichten für The New Yorker. 1951 veröffentlichte Jerome D. Salinger im New Yorker Verlag Little, Brown & Company seinen ersten und einzigen Roman The Catcher in the Rye. Das Buch wurde und ist weltweit ein grandioser Erfolg. Zwei Jahre nach Erscheinen des Fängers zog sich Salinger aus der Öffentlichkeit zurück und veröffentlicht von 1953 bis 1963 nur noch drei weitere Erzählbände.

Irene Muehlon übersetzte seit Ende der 1940er Jahre belletristische Literatur aus dem Englischen, u.a. Romane von William Somerset Maugham, Pearl S. Buck und Sterling North. 1954 fertigte die Schweizerin im Auftrag des Diana-Verlages eine Übersetzung von Jerome D. Salingers The Catcher in the Rye mit dem Titel Der Mann im Roggen an.

Heinrich Böll (1917-2002) war seit 1952 Hausautor des Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch. Hier veröffentlichte er seine Hauptwerke, u.a. Ansichten eines Clowns (1963), Gruppenbild mit Dame (1971) und Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974). Böll übersetzte gemeinsam mit seiner Frau Salingers Erzählungen; für die 1962 erschienene Übersetzung von Der Fänger im Roggen, eine überarbeitete und ergänzte Fassung der Muehlon-Übersetzung, zeichnete Heinrich Böll jedoch alleine verantwortlich. 1972 erhielt Heinrich Böll den Nobelpreis für Literatur.

Eike Schönfeld (geb. 1949) übersetzt seit etwa dreißig Jahren aus dem britischen und amerikanischen Englisch, u.a. Romane von Jonathan Franzen, Jeffrey Eugenides und Nicholson Baker, mit dem er den diesjährigen Internationalen Hermann-Hesse-Preis erhalten hat. Für seine Übersetzertätigkeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, dem Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse und im letzten Jahr mit dem Christoph-Martin-Wieland-Übersetzerpreis. 2003 erschien Der Fänger im Roggen in Schönfelds Neuübersetzung bei Kiepenheuer & Witsch, in den Folgejahren legte er dort auch Salingers weitere Werke neuübersetzt vor. Schönfeld lebt in Hamburg.

David Schahinian (geb. 1974) lebt in Frankfurt am Main, wo er 2005 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität seinen Abschluss in Anglistik und Germanistik machte. Seine Magisterarbeit zur Sprachgestaltung und zum Sprachwandel in Salingers Der Fänger im Roggen wurde neben anderen in dem Buch Sprachwandel in literarischen Übersetzungen: Aragon, Salinger, Orwell (Peter Lang 2009) veröffentlicht. Seit 2008 ist Schahinian als freier Journalist tätig.