Simon Nardis, Fachmann für industrielle Heizungsanlagen und ehemals professioneller Jazzpianist, erledigt einen Auftrag in einer französischen Stadt am Meer. Am Abend gehen er und sein ortsansässiger Kollege essen und anschließend in einen Club, in dem ein Jazztrio auftritt. Während einer Spielpause setzt sich Simon, der zehn Jahre lang keine Tasten mehr angerührt hat, an den Flügel und beginnt zu improvisieren. So verpasst er den letzten Zug nach Paris, lernt aber dafür die Besitzerin des Clubs, die Amerikanerin Debbie Parker kennen. Die beiden verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Simon übernachtet im Hotel und trifft sich am nächsten Vormittag mit Debbie am Strand. Simons Frau Suzanne, entnervt von den wiederholten Anrufen ihres Mannes, bei denen er ihr jedes Mal verkündet, dass er den einen Zug verpasst habe aber den nächsten ganz bestimmt nehmen werde, beschließt, ihn an Ort und Stelle abzuholen.
Der namenlose Ich-Erzähler stellt sich als Freund von Simon und Suzanne vor und berichtet einige Jahre später von den Ereignissen. Mehr Zeuge als Teilnehmer der Handlung, spricht er in zahlreichen Rückblenden und Vorausdeutungen von Simons früherem Leben als Jazzpianist und dem späteren mit Debbie. Schon recht früh erwähnt er beiläufig Suzannes Tod. Wie es dazu kommt, erfährt der Leser erst später.
Der Autor nennt seinen Text „Roman“, aber dafür ist er recht kurz. Auch die Einordnung als Novelle kommt in Frage wegen der dramatischen, sich über wenig mehr als einen Tag erstreckenden Handlung. Doch viel wichtiger ist ohnehin der Stil des Erzählens. Zunächst einmal fallen die kurzen, teilweise sogar unvollständigen Sätze auf. Manchmal scheint die Interpunktion längere Perioden regelrecht zu zerhacken. Wörtliche Rede wird in der deutschen Version nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet, in der französischen fehlen die üblichen Gedankenstriche und Zeilenvorschübe. Dadurch gehen die Repliken eines Dialogs bisweilen ineinander über, der Leser kann sie nicht gleich einem Sprecher zuordnen. Dafür hat der Autor natürlich einen Grund: Das Buch handelt, wie auch andere Romane von Christian Gailly, von Musik und seine Sprache versucht, sich dieser Kunstform zu nähern. Sie kann das auf verschiedene Weisen tun: Sie kann Musik erwähnen, sie beschreiben, oder sie kann versuchen, sie nachzuahmen.
Die schöne Beschreibung: „Ein überaus verschleppter Swing voller vorgezogener und nachschlagender Noten, endlos zurück- und hingehaltener Synkopen, das ist ihre Spezialität“ lautet im Original: „Un swing décalé à outrance, plein de retards et d’avances, mesures bancales avec syncopes indéfiniment retenues, suspendues, tout ça leur appartient.“ Die Übersetzerin Doris Heinemann hat hier also die „mesures bancales“, die „wackeligen Takte“, unter den Tisch fallen lassen, was kein großes Manko darstellt. Der Satz ist wichtig, weil er als programmatisch für den ganzen Text angesehen werden kann. Autor und Übersetzerin versuchen durch Satzbau und Zeichensetzung, den für Jazz charakteristischen Rhythmus auf die Sprache zu übertragen. So singt Debbie, von Simon am Klavier begleitet, das Chanson „Les feuilles mortes“. Ein Teil des Refrains ist im Erzähltext eingebettet, und zwar in der Form: „C’est une chanson. Qui nous ressemble. Toi qui m’aimais. Moi qui t’aimais. Nous vivions tous. Les deux ensemble.“ Der Autor hat hier im Liedtext gegen den natürlichen Satzbau Punkte eingefügt. Wenn man die Melodie kennt, bemerkt man, dass die Punkte da stehen, wo im Lied durch ganze Noten der Textfluss für kurze Zeit angehalten wird; es handelt sich also um die Nachahmung eines speziellen Musikstücks in der Schrift. In der Übersetzung findet sich: „Es war ein Lied. Das uns sehr glich. Du der mich liebte. Ich die dich liebte. Wir lebten beide. Miteinander.“ Diese Liedzeilen kommen zwar den französischen sehr nahe, unterscheiden sich aber teilweise in der Silbenzahl und Betonung von ihnen und können daher die Melodie nicht so gut evozieren. Vielleicht wäre es die bessere Wahl gewesen, den Liedtext im französischen Original zu belassen.
Abgesehen von ein paar diskutierbaren Entscheidungen (wie z.B. der Verwendung deutscher Konfektionsgrößen im französischen Zusammenhang) hat die Übersetzerin eine souveräne Leistung vollbracht. Es ist ihr gelungen, den spezifisch musikalischen Stil Gaillys wiederzugeben, ohne an der Vorlage zu kleben. Die folgende schöne Alliteration steht an einer Stelle, wo der Ausgangstext keine zu bieten hat: „Bewegend in ihrer Weigerung, irgendwelchem Wohlklang Konzessionen zu machen.“ Wohlklang findet sich durchaus in dem Buch, das auf Deutsch wie im Original sehr zu empfehlen ist.
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Christian Gailly: Ein Abend im Club, aus dem Französischen übersetzt von Doris Heinemann, Berlin: Berlin Verlag 2005, 142 Seiten, €7,50
Christian Gailly: Un soir au club, Paris: Les Éditions de Minuit, 2002, 176 Seiten