Buchcover Gabriel García Márquez jenseits der Einsamkeit – Das Netzwerk eines Klassikers
Friederike Hofert über Ascent to Glory – How One Hundred Years of Solitude Was Written and Beame a Global Classic von Álvaro Santana-Acuña, New York: Columbia University Press

Je erfolgreicher ein Werk, desto wahrscheinlicher wird seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von einem Mythos begleitet. Van Goghs Sternennacht wird selten ohne einen Hinweis auf den einsamen Wahn des Malers erwähnt, Die Verwandlung nicht ohne Kafkas missachteten Wunsch, seine Werke mögen ihn nicht überleben, On the Road nicht ohne die vier Ephedrin-geschwängerten Tage, in denen Kerouac es geschrieben haben soll, und die Werke Prousts, Melvilles oder J.K. Rowlings nicht ohne Hinweis auf die zahlreichen Verlage, von denen die später so berühmten Romane abgelehnt wurden. Diese Erzählungen haben eines gemeinsam: Sie lassen die Schöpfer*innen als einzigartige Genies erscheinen, die nur aus sich selbst heraus und gegen die Widerstände einer ignoranten Umwelt Klassiker von universeller Bedeutung erschaffen.

Dass auch dem 1967 erschienenen Roman Cien años de soledad (deutschsprachiger Titel: Hundert Jahre Einsamkeit) von Gabriel García Márquez der Status eines Klassikers zugesprochen wird, zeigt nicht nur seine breite akademische Rezeption, sondern – und vor allem – auch seine regelmäßige Erwähnung auf den zahlreichen mit Superlativen überschriebenen Listen der schönsten/einflussreichsten/meist-gelesenen/wichtigsten usw. Bücher der Literaturgeschichte, die durch die Print- und Onlinemedien verbreitet werden. Und wenig überraschend wird auch seine Entstehungsgeschichte von einem Mythos begleitet: Dieser besagt, dem bis dahin wenig erfolgreichen und an einer Schreibblockade leidenden Schriftsteller García Márquez sei auf dem Weg in den Familienurlaub der berühmte erste Satz des Romans als eine Art Epiphanie erschienen. Sofort habe er das Auto gewendet, sei in sein Haus zurückgekehrt, wo er in völliger Abgeschiedenheit in nur etwas mehr als einem Jahr den Roman zu Papier gebracht habe. Obwohl der verarmte Poet aus Geldmangel nur die Hälfte des Manuskripts habe versenden können, sei der Verlag sofort von der Qualität überzeugt gewesen und habe umgehend zugesagt. Kaum gedruckt, sei das Buch dank seiner universellen Aussagekraft dann innerhalb kurzer Zeit zum Klassiker avanciert, der auf der ganzen Welt rezipiert werde.
Dieser kontrafaktische Entstehungsmythos enthält vieles, mit dem sich vermeintliche und tatsächliche Alleinstellungsmerkmale des Werks unterstreichen lassen: vom verarmten Poeten, über die plötzliche kreative Eingebung und das einsame Genie, das abgeschieden von der Welt an einem Meisterwerk feilt, bis hin zu dem Buch, das allein durch seine einzigartige Wirkungsmacht zu Ruhm gelangt. In Ascent to GloryHow One Hundred Years of Solitude Was Written and Became a Global Classic setzt ihm der U.S.-amerikanische Soziologe Álvaro Santana-Acuña eine detaillierte Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Romans entgegen, in der er den Aufstieg des Werks zu einem der meistrezipierten Romane der Welt nachzeichnet. Dadurch soll belegt werden, dass weder das Verfassen eines Erfolgsromans noch seine Erhebung in einen Klassikerstatus das Produkt eines einzelnen Genies seien, sondern das Ergebnis des spezifischen Kontexts, in dem ein Roman erdacht, geschrieben und verbreitet werde.

Im ersten von zwei Teilen des Buches stellt Santana-Acuña dazu dem Geniegedanken den Entstehungskontext des Romans gegenüber. Dabei geht er besonders auf den Zeitraum ein, in dem der Roman beeinflusst von aktuellen literarischen Strömungen und Ideen konzipiert wurde und der nach Einschätzung des Autors in der Kulturwissenschaft bislang zu wenig Beachtung finde. Anhand einer ausführlichen Literatur- und Kulturgeschichte, die kenntnisreich mit der Biografie von García Márquez verknüpft wird, weist Santana-Acuña nach, dass dieser Zeitraum der „Imagination“ bei Hundert Jahre Einsamkeit mit der Entstehung der Vorstellung von Lateinamerika als einheitlichem Literaturraum mit einer gemeinsamen Poetik zusammenfällt.

Im Fokus steht dabei vor allem die Herausbildung von Netzwerken und Strukturen, von denen Gabriel García Márquez während seiner tatsächlich siebzehnjährigen Arbeit am Roman profitieren kann. Es wird dargelegt, wie sich mit der nun als einheitlich wahrgenommenen Literatur eine Nische ausbildet, deren ästhetische Grundsätze sich García Márquez im Austausch mit anderen Autoren (Santana-Acuña weist mehrfach darauf hin, dass dieses Autoren- und Kritiker-Netzwerk ausschließlich aus Männern bestand) zu eigen macht durch das, was Santana-Acuña als Dreisatz von „collaboration – adaption – competition“ (Zusammenarbeit – Adaption – Konkurrenz) bezeichnet. Der Einfluss der ihn umgebenden Künstlerkreise auf den Roman wird anhand von Briefen, Motivvergleichen und Rezensionen belegt. Durch detailliert aufgearbeiteten Rechercheergebnisse wird statt des Bilds eines einsamen Genies das einer Person gezeichnet, die die Spielregeln eines Netzwerks zu einem Zeitpunkt für sich nutzen kann, als es sich auf dem Höhepunkt seines Erfolges, bekannt als „Boom“ befindet. Denn die Herausbildung einer vermeintlich einheitlichen lateinamerikanischen Literatur sowie die Erschließung neuer Kommunikations-, Produktions- und Vertriebsmöglichkeiten hat einen plötzlichen weltweiten Erfolg lateinamerikanischer Schriftsteller in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zur Folge.  Das in der Zeit des „Booms“ veröffentlichte Hundert Jahre Einsamkeit wird daher anfangs nur als eines von vielen Werken dieser Epoche wahrgenommen.

Dabei ist es aber nicht das Hauptanliegen des Buchs, den Mythos des einsamen Genies zu widerlegen. Bei aller anekdotischer Fülle, mit der im ersten Teil García Márquéz‘ Verbindungen zu Akteuren des „Booms“ nachgewiesen wird, soll durch die Kontrastierung mit der tatsächlichen Entstehungsgeschichte aufgezeigt werden, welchen Einfluss der Geniegedanke auf den Weg von Hundert Jahre Einsamkeit zum modernen Klassiker hat.

Santana-Acuña argumentiert im zweiten Teil des Buchs, das sich der Verbreitungs- und Rezeptionsgeschichte widmet, erst der Entstehungsmythos, habe es ermöglicht, Hundert Jahre Einsamkeit vom Entstehungskontext zu isolieren. Durch die Herauslösung aus der „Nische“ des „Booms“ sei er nicht mehr „nur“ der große lateinamerikanische Roman, der in einem speziellen Kontext als Produkt einer bestimmten Literaturtradition entstanden ist, sondern ein Werk mit einzigartigen Motiven und Stilelementen. Er sei nicht mehr „nur“ ein meisterhaftes Beispiel für das Verweben von Stilmitteln gewesen, die die Ästhetik der neuen lateinamerikanischen Literatur kennzeichnen, sondern werde durch die Herauslösung zu einem Werk, das nicht von einem Genre beeinflusst wurde, sondern es sogar erst geschaffen habe. (Schließlich wird der Roman immer wieder nicht nur als Musterbeispiel des so genannten Magischen Realismus‘, sondern fälschlicherweise als Ursprung dieses Genres benannt.)

Durch diesen Prozess, den Santana-Acuña „Disembedding“ (Loslösung) nennt, wird dem Werk eine universelle Gültigkeit zugeschrieben, die seine Neuverortung in anderen Kontexten ermöglicht. Und erst durch den Glauben an eine universelle Gültigkeit, der von einer Rezeptionsgeneration an die nächste weitergereicht werden kann, erreiche ein Werk nach Santana-Acuña einen Klassikerstatus. Die Weitergabe erfolge dabei durch „Cultural Broker“ (etwa Kulturvermittler*innen): Institutionen, Personen und Strukturen wie nicht-akademische Leser*innen, Nicht-Leser*innen, Massenmedien, Blogger*innen und soziale Medien. Anders als etablierte Kulturinstitutionen wie Universitäten oder professionelle Kulturkritiker*innen betrachten sie den Roman außerhalb seines Entstehungskontextes, lösen ihn so aus seiner Nische und aus der Kontrolle derjenigen, die ihn erdacht, geprägt und verbreitet haben. Dadurch trete der Entstehungs- und Verbreitungskontext in den Hintergrund und werde durch den Glauben abgelöst, aus Elementen des Romans, die Santana-Acuña angelehnt an die Semiotik „Indexicals“ (etwa Hinweisungszeichen) nennt, ließen sich durch seine Einzigartigkeit allumfassende Aussagen ableiten. „Indexicals“ können dabei Handlungs- und Stilelemente eines Romans sein, aber auch Elemente aus Genese und Rezeption, wie eben jene Epiphanie des ersten Satzes oder die Einordnung in den Magischen Realismus.

Um zu belegen, welche Rolle sie bei der Verbreitung des Romans gespielt haben, analysiert Santana-Acuña Elemente des Romans, die zu „Indexicals“ geworden sind, und zeigt auf, welche soziale Funktion ihnen im Laufe der Zeit zugesprochen wurde. Er weist nach, wie sie in unterschiedliche Zusammenhänge eingebettet werden und dazu dienen, soziale Wirklichkeiten zu ordnen. Beispielhalft ist hier Macondo, der fiktive Handlungsort dieses und anderer Romane von Gabriel García Márquez. Hundert Jahre Einsamkeit orientiert sich am Aufstieg und Verfall des Ortes, dessen Bewohner*innen im Verlauf des Romans Bürgerkriegen, brutalen Autokratien und den sozialen Ungerechtigkeiten einer voranschreitenden wirtschaftlichen Globalisierung ausgesetzt sind.

Anhand von Essays, Interviews und Kommentaren aus sozialen Medien weist Santana-Acuña nach, wie Macondo im Laufe der Rezeptionsgeschichte des Romans zur Metapher wird, mit der von Kolumbien über Russland bis Japan Orte politischer Konflikte beschrieben werden, und wie sich diese Metapher so weit etabliert, dass sie auch ohne Kenntnis der Romanhandlung verstanden werden kann.

Wie dieses „Desembedding“ auch eine Loslösung der „Indexicals“ aus einem zeitlichen Bezug ermöglicht, stellt Santana-Acuña anhand des Handlungselements der Schlaflosigkeit dar, von der die Bewohner*innen Macondos heimgesucht werden: 2020 wird sie in den sozialen Medien mit der beginnenden Covod 19-Pandemie verglichen. Der kurdisch-türkische Journalist Orhan Miroğlu hingegen sieht in dem der Schlaflosigkeit folgenden kollektiven Gedächtnisverlust der Bewohner*innen eine Parallele zu dem fehlenden Gedenken an den Genozid an den Armenier*innen am Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts. Mit Hilfe von „Indexicals“ werden so Ereignisse der Vergangenheit und der Gegenwart interpretiert oder vermeintlich universelle Aussagen über die Natur des Menschen oder die Literatur formuliert.

Es sind diese Zuschreibungen universeller Bedeutung, die den Roman in den Klassikerstatus erhoben haben. Dass dies nicht in seiner einzigartigen Machart, sondern in seiner Rezeptionsgeschichte begründet ist, versucht Santana-Acuña durch „Counterfactuals“ (Kontrafakten) zu belegen: Er entwirft verschiedene Szenarien, in denen er Parameter der Veröffentlichung wie den Zeitpunkt oder den Verlag ändert, die womöglich seinen Aufstieg zum Klassiker verhindert hätten. Darüber hinaus untersucht er fünf Werke der lateinamerikanischen Literaturgeschichte, die beispielsweise zu einem ähnlichen Zeitpunkt erschienen sind oder sich mit ähnlichen Motiven befassen und die allesamt zwar zur kanonisierten Literatur gezählt werden, aber nie den gleichen Status erlangt haben wie Hundert Jahre Einsamkeit. Er zeichnet ihre Entstehungsgeschichte nach und belegt so, wie sich eben diese Parameter der Veröffentlichung auf die Rezeption ausgewirkt haben.

Sicher dürfte das Ergebnis von Santana-Acuñas Spurensuche, nämlich die Dekonstruktion des Geniegedankens, für Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen kaum eine Überraschung darstellen. Die Stärke und auch der eigentliche Anspruch der fast kriminologisch aufgearbeiteten Untersuchung, illustriert durch zahlreiche Schautafeln und Abbildungen, liegen aber woanders: Zum einen in der kulturwissenschaftlichen Kontextualisierung des konkreten Werks. Die akribische Forschung Santana-Acuñas bietet einen umfassenden und zugänglichen Einblick in die Literatur- und Kulturgeschichte Lateinamerikas von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Die genaue Aufschlüsselung der Herkunftsgeschichte von Begriffen wie „Boom“, „Magischer Realismus“ und selbst „Lateinamerika“ sowie die Einbeziehung globaler Strukturen der Kulturvermittlung und Produktion ermöglicht es dabei, von der Literaturwissenschaft tradierte Perspektiven zu hinterfragen.

Der leichtfüßige und fast anekdotische Ton, in dem die Vernetzungen der Kulturproduktion aufgezeigt werden, bietet auch für nicht-wissenschaftliche Rezipient*innen ein unterhaltsames Lesevergnügen. Dies sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dieser umfassenden und schlüssig strukturierten Studie um einen wissenschaftlichen Text handelt, der neben dem Einblick in die Literaturgeschichte auch weitere Forschungsgrundlagen eröffnet.

So untersucht Santana-Acuña zwar exemplarisch zu „Indexicals“ gewordene Teile des Romans, geht dabei aber nicht auf Übersetzungsfragen ein. Für die Forschung wäre eine Untersuchung, inwiefern Übersetzungsentscheidungen und die Integration des Werks in verschiedene kulturelle Kontexte und Literaturtraditionen sicher lohnenswert. Bei den deutschsprachigen Ausgaben böte sich auf Grundlage der „Indexicals“ auch ein anderer Vergleich an: Da das Werk sowohl in der Bundesrepublik als auch – als Lizenzausgabe – in der DDR veröffentlicht wurde, ließe sich hier die Deutung und Herausbildung der „Indexicals“ in einem je spezifischen Zusammenhang untersuchen. Wie etwa wird Macondo als Ort politischer Ungerechtigkeit im Osten diskutiert? Wie im Westen? Die Rekontextualisierung des Werks durch die 2017 erschienene Neuübersetzung von Dagmar Ploetz böte darüber hinaus Grundlage zu einer diachronen Betrachtung der „Indexicals“.

Das Buch ist zudem weit mehr als eine Grundlage für die Forschung am konkreten Werk oder an lateinamerikanischer Literatur. Im Anhang, den Santana-Acuña mit Why and How to Study Classics übertitelt, fasst der Autor die neu eingeführten Begriffe und Strategien wie „Indexicals“, „Cultural Broker“ und „Counterfactuals“ zusammen und erläutert, wie sie neue Perspektiven auf Klassiker eröffnen. Durch ihre Einbeziehung in die Forschung zu Klassikern der Kulturgeschichte könne viel über die gesellschaftlichen Zusammenhänge ausgesagt werden, innerhalb derer sie geschaffen wurden, da sie erst durch die gemeinsame Anstrengung vieler Kräfte zum Teil einer sozialen Übereinkunft werden, nach der die soziale Wirklichkeit geordnet werde. Dabei werden mit dem Konzept der „Cultural Broker“, unter das auch Vertreter*innen der neuen Medien gefasst werden, Anknüpfungspunkte für aktuelle Rezeptionsforschungen geliefert. Darüber hinaus bieten die Kontrafakten eine interessante argumentative Stütze bei der Betrachtung kulturhistorischer Phänomene.

Neben einer Literaturgeschichte und einer Werkanalyse kann Ascent to Glory – How One Hundred Years of Solitude Was Written and Became a Global Classic also auch als allgemeine Anleitung für die Auseinandersetzung mit zu Klassikern erhobenen Kulturerzeugnissen gelesen werden. Diese, betont der Autor, seien auch außerhalb der Literaturgeschichte zu finden. Vielleicht würde sich also neben J.K. Rowlings Depression, Jack Kerouacs Drogen- oder Hemingways Alkoholkonsum eine Betrachtung lohnen, warum das Lächeln der Mona Lisa ebenso zu einem indexikalisierten Mythos geworden ist wie das Ohr von Van Gogh.


Santana-Acuña, Álvaro. 2000. Ascent to Glory- How One Hundred Years of Solitude Was Written and Became a Global Classic. New York: Columbia University Press, 370 Seiten.

Álvaro Santana-Acuña studierte u.a. Geschichte und Sozialwissenschaften an der University of La Laguna und der University of Chicago. Er promovierte an der Harvard University in Soziologie und ist Assistant Professor für Soziologie am Whitman College in Washington.

Friederike Hofert studierte u.a. Literaturwissenschaft, Hispanistik und Literaturübersetzen in Saarbrücken, Cali und Düsseldorf. Sie übersetzt Literatur aus dem Spanischen und Englischen.

 

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