Buchcover Raum zum Atmen
Sabine Ruflair zum Unterschied zwischen Lyrik und Lyrics aus Sicht einer Musicalübersetzerin

Als ich kürzlich im Rahmen eines Interviews auf die lyrischen und dramatischen Elemente einer Musicalübersetzung angesprochen wurde, war ich ob des Wortes „lyrisch“ doch erstaunt. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass ich Lyrik übersetze. Denn in meinem Fachgebiet, den Musicals, sind die Dialoge und Liedtexte im Allgemeinen umgangssprachlich, schnell und direkt. Zwar benennen sie Gefühle, doch der Fokus liegt in der Regel eher auf der Dramaturgie als auf der Poesie. Aber dennoch, natürlich: Geschriebene Musical-Liedtexte sehen erst einmal aus wie Gedichte. Und sie erfüllen die grundlegende Definition von Lyrik nach dem Duden: „Literarische Gattung, in der mit den formalen Mitteln von Reim, Rhythmus, Metrik, Takt, Vers, Strophe u. a. besonders subjektives Empfinden, Gefühle, Stimmungen oder Reflexionen, weltanschauliche Betrachtungen o. Ä. ausgedrückt werden.“ Auch nennen wir die Liedtexte im Musical oft „Lyrics“ und geschrieben werden sie von einem Lyricist oder eben „Textdichter“.

Gibt es also einen Grund dafür, dass ich mich nicht automatisch zu den klassischen Lyrikübersetzerinnen zähle? Gibt es Unterschiede zwischen dem Übersetzen von Lyrik und dem Übersetzen von Musical-Lyrics? Ja, die gibt es, und zwei davon möchte ich hier vorstellen: Kontextualisierung und Singbarkeit.

Mit Kontextualisierung meine ich zum einen, dass Liedtexte im Musical, auch wenn sie auf dem Papier wie Gedichte aussehen, niemals losgelöst von den Dialogen um sie herum, oder gar vom ganzen Stück übersetzt werden sollten. Denn sie stehen eben nicht für sich, sie sollen nicht nur ein „besonderes subjektives Empfinden ausdrücken“, sondern sie müssen inhaltlich wie sprachlich an den Rest der Geschichte anknüpfen. Außerdem übernehmen sie innerhalb des Musicals eine bestimmte dramaturgische Funktion, zumindest, wenn das Stück gut geschrieben ist. Wenn Sie sich im Theater fragen: „Warum singt der denn jetzt?“, dann sitzen Sie vermutlich in einem nicht so gut geschriebenen Musical.

Einige Lieder dienen der Charakterisierung von Figuren, andere Lieder treiben die Handlung voran, weil innerhalb der Lieder Aktionen stattfinden. Nehmen wir zum Beispiel einen sehr bekannten Typ Musicalsong, den im Englischen sogenannten „I want“-Song. Dieser erklingt in der Regel ziemlich zu Beginn des Stückes und wird von der Held*in als Solo gesungen. Beispiele für den I want-Song sind „The Wizard and I“ aus Wicked oder „Ein Mensch zu sein“ aus Arielle. Die dramaturgische Funktion des I want-Songs besteht darin, dem Publikum die Hauptfigur und ihre Wünsche vorzustellen. Wir lernen in diesem Lied, was sie will, und wissen dadurch sofort, bei welcher Mission wir die nächsten Stunden mitfiebern sollen. Ich muss als Musicalübersetzerin um die Bedeutung dieses Liedes wissen und den ganzen Entwicklungsbogen der Hauptfigur bis zum Schluss mitdenken, wenn ich die passenden deutschen Worte suche. Ich kann nicht nur den „Gedichttext“ übersetzen.

Noch viel wichtiger aber für die Kontextualisierung ist die Verbindung der Liedtexte mit der dazugehörigen Musik. Liedtexte können nicht davon losgelöst übersetzt werden! Denn ebenso wie die Autor*in hat die Komponist*in eines Musicals ihre Melodien so geschrieben, dass sie an dieser Stelle im Stück etwas Bestimmtes auslösen oder beitragen. Musik vermittelt Emotionen, und diese müssen beim Übersetzen bedacht werden. Schließlich wird der Liedtext später nicht gelesen, sondern gehört, und zwar ausschließlich in Kombination mit der Komposition. Im Unterschied zu Gedichten sind aufgeschriebene Liedtexte im Musical (aber sicher auch darüber hinaus) also nur ein Teil eines Gesamtwerkes, welches sich erst beim Hören vervollständigt.

Jane Eyre Suesse Freiheit
Foto: Rudi Gigler; Musical Frühling in Gmunden

Das Zusammenspiel mit der Musik führt uns zum zweiten großen Unterschied zwischen Lyrik und Lyrics: der Singbarkeit.

Unter Singbarkeit verstehe ich ganz allgemein, dass der von mir übersetzte Text gut „klingen“ muss, wenn ihn eine Sänger*in vorträgt. Denn das Musical und damit auch die Musical-Liedtexte werden zum größten Teil im Rahmen einer Aufführung auf einer Bühne rezipiert. Sicher, auch Gedichte werden vorgetragen. Aber sie werden ebenfalls gelesen, im Gedichtband verschenkt, auf Glückwunschkarten geschrieben und im Deutschunterricht analysiert, in Schriftform. Hingegen gibt es kaum Menschen, die Musicals jemals lesen. Dafür sind Musicals nicht gemacht. Und selbst wenn man wollte: Musical-Textbücher werden, anders als viele Schauspielstücke, nicht gedruckt veröffentlicht – Ausnahmen bestätigen die Regel.

Bei einer „singbaren“ Übersetzung achtet eine Musicalübersetzer*in auf eine Reihe von Dingen, die ganz speziell mit Musik und Gesang zu tun haben. Denn was man aussprechen kann, kann man nicht notwendigerweise auch singen.

Zunächst muss der Text leicht zu artikulieren sein. Eng aufeinanderfolgende Konsonanten können in schnellen Gesangspassagen ein großes Problem darstellen. Das ist beispielsweise einer der vielen Gründe, warum das Hit-Musical Hamilton, welches in den letzten Jahren das Genre Musical vorangetrieben hat, so schwer zu übersetzen ist. Denn Hamilton besteht zu einem nicht unerheblichen Teil aus schnellen Rap-Passagen. Diese authentisch und artikulierbar ins Deutsche zu übertragen, ist keine leichte Aufgabe.

Auch der Rhythmus der Musik muss für die Singbarkeit beachtet werden. Denn anders als bei reinen Gedichten wird im Gesang nicht nur die Metrik vorgegeben, sondern zusätzlich auch die Länge jeder einzelnen Silbe durch Notenwerte festgelegt. Der Rhythmus gibt im Übrigen ebenfalls die Pausen vor, und damit die Stellen, an denen geatmet werden kann – ohne gut eingeteilten Lufthaushalt kein Gesang. Für die Übersetzung bedeutet das, darauf achten zu müssen, dass die offensichtlichen Luftholpausen wenn möglich zwischen Wörtern und nicht zwischen Silben liegen, denn dann würde der Sprachfluss unnatürlich klingen.

Und dann gibt es noch die verschiedenen Tonhöhen. Viele Lieder im Musical enden mit hohen, langgezogenen Schlusstönen. Auf diese Töne „enge“ Vokale wie i oder u zu setzen, bringt Sänger*innen in der Regel in große Schwierigkeiten, weil diese Vokale schwerer zu produzieren sind und nicht so gut resonieren wie beispielsweise das a. Ich persönlich versuche weitgehend, für Frauen bei besonders anstrengenden „Belt“-Tönen (so der Fachbegriff für diese bestimmte, kraftvolle Art des Gesanges auf hohen Tönen) Wörter mit dem Vokal a zu schreiben – auch wenn sich andere Lösungen nicht immer vermeiden lassen.

Ein kleines Beispiel soll abschließend die Überlegungen zur Singbarkeit beim Übersetzen illustrieren. Das Folgende ist der Schluss des Liedes „Sweet Liberty“ aus dem wunderbaren Musical Jane Eyre. Geschrieben wurde es von John Caird und Paul Gordon nach dem Roman von Charlotte Brontë, und ich habe es vor einigen Jahren ins Deutsche übersetzt. „Sweet Liberty“ ist Janes I want-Song, in dem sie für sich erkennt, dass die Routine ihres aktuellen Lebens sie gefangen hält. Sie wünscht sich, frei von strengen Regeln leben zu können, und die Welt zu erfahren.

Hervorgehoben sind hier alle Wörter, die auf hohen oder langen oder sogar hohen langen Tönen liegen.

CROSS THE RIVERS
PAST THE HIGHLANDS
WITH GOD’S WIND IN MY HAIR
I LOOK OUT OVER BOUNDLESS SKIES
MY SPIRITS RISE
AND CARRY ME
BEYOND MY PAST
WHERE I WILL FIND
SWEET LIBERTY, MY LIBERTY
AT LAST

Hier musste der Schlusston imposant klingen, damit das Lied mit der richtigen Emotion endet und den erhofften Applaus erzielt. Dies wiederum schloss Lösungen mit „zuletzt“ als deutsche Übersetzung für „at last“ von vorneherein aus, zum einen weil das e dafür etwas zu eng wäre, zum anderen, weil es einfach kein schöner Abschluss wäre. Da aus „Liberty“ das Wort „frei“ abgeleitet werden kann, entschied ich mich dafür als Schlusston.

Von dieser Lösung aus arbeitete ich mich zurück nach vorne und baute so viele a wie möglich ein. Einige wären ohnehin vorhanden gewesen („Haar“ für „Hair“), andere musste ich erzeugen. So wurde zum Beispiel aus „and carry me“ nicht etwa „dann trägt es mich“, sondern der deutsche Text „und trägt mich weit“. Am Schluss kam unter Berücksichtigung von Inhalt, Kontext, Vokabular, Metrik, Rhythmik und Singbarkeit die folgende Version heraus. Das Lied trägt in meiner Übersetzung den Namen „Süße Freiheit“.

Über Flüsse
Durch das Hochland
Gottes Wind mir im Haar
Und der Himmel ist grenzenlos
Mein Herz wird groß
Und trägt mich weit
An dem vorbei
Was mich befängt
Mit freiem Sinn, Dort endlich bin
Ich frei

Und weil ich oben so ausführlich erklärt habe, dass Musical-Texte geschrieben nicht gänzlich verstanden werden können, möchte ich Sie bitten, bei Interesse auf Youtube die schöne Aufnahme des Liedes im Rahmen der deutschsprachigen Erstaufführung beim Musicalfrühling Gmunden mit diesen Ausführungen im Hinterkopf zu hören.

Sicher sind diese Aspekte der Singbarkeit und Kontextualisierung nicht die einzigen Unterschiede zwischen der Übersetzung von Lyrik und Musical-Lyrics. Aber gerade die Singbarkeit sollte bei Übersetzungsprozessen von Musicals bewusst oder unbewusst immer an erster Stelle stehen. Und das dürfte bei der reinen Gedichtübersetzung anders sein. Ein bisschen erscheint mir das Übersetzen von Liedtexten daher vielleicht wie eine Gedichtübersetzung mit zusätzlichen Herausforderungen. Und mit Raum zum Atmen.

Sabine Ruflair übersetzt seit vielen Jahren Musicals vom Englischen ins Deutsche. Von 2015 bis 2021 war sie zudem in der internationalen Kreativabteilung der Firma Stage Entertainment tätig und betreute als Translation Supervisor die Übersetzungsprozesse ausgewählter Stücke wie TINA – Das Tina Turner Musical, Pretty Woman oder Hamilton. 2020 und 2021 hielt sie erstmals Gastvorträge zum Musicalübersetzen im Studiengang Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

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