Buchcover Trank Paul Celan beim Lyrikübersetzen Kaffee?
Katja Buchholz auf Spurensuche in Paul Celans Bibliothek im Deutschen Literaturarchiv Marbach

Paul Celan (1920-1970) war ein überaus versierter Lyrikübersetzer. Geboren in der Bukowina war ihm der Umgang mit mehreren Sprachen von Kindesbeinen an vertraut. Sein Wirken als Übersetzer war eng mit der Arbeit an seinem eigenen Werk verknüpft und beeinflusste den Lyriker sein Leben lang. Seine außergewöhnliche Sprachbegabung spiegelt sich in seiner Bibliothek wider. Darin finden sich neben deutscher, englischer, französischer und russischer Literatur unter anderem auch rumänische, italienische und hebräische Bücher. Sie sind Zeugen und Zeugnisse von Celans steter Suche nach neuen Wörtern und seinem Herantasten an das Original. Der Übersetzer Paul Celan rückt näher, betrachtet man seine Bibliothek. Sie bietet Einblicke in einen Prozess, der sonst nur abgeschlossen öffentlich wird, wenn der geschliffene, letztlich publizierte Text vorliegt.

Die Spuren, die Celans Übersetzertätigkeit in seiner Bibliothek hinterlassen hat, wurden von August 2009 bis Oktober 2011 in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt recherchierbar gemacht. Ziel war es, den Benutzern über den Marbacher Online-Katalog Kallías eine virtuelle Gesamtrekonstruktion der Bibliothek von Paul Celan zu bieten und auf Exemplare hinzuweisen, die sich durch handschriftliche Eintragungen, Widmungen oder Einlagen besonders hervorheben. Auf diese Weise soll schon bei der Recherche erkennbar werden, wie Celan mit seinen Büchern arbeitete.

Voraussetzung dafür war die Katalogisierung des in Marbach befindlichen Bestandes. Dieser besteht aus 4.617 Bänden. Darüber hinaus hat Celan nachweislich weitere Titel besessen, die nie nach Marbach gekommen sind, weil sie zum Beispiel vorher verschenkt wurden. Welche Bücher das waren, ließ sich anhand des „Bonner Katalogs“ ermitteln, der 1972-1974 sowie 1987 von Mitarbeitern der Bonner historisch-kritischen Celan-Ausgabe angefertigt worden war. Bücher, die sich nicht in Marbach befinden, wurden auf dieser Grundlage ebenfalls katalogisiert. So konnte Celans gesamte Bibliothek im Katalog rekonstruiert werden.

Die auf der Katalogisierung aufbauende Provenienzerschließung konzentriert sich schließlich auf die Verzeichnung der Spuren, die Celan bei Arbeit und Lektüre in seinen Büchern hinterlassen hat. Sie ermöglicht eine gezielte Suche nach Exemplaren, die Randnotizen, Widmungen, Anstreichungen oder Datierungen tragen. In Celans Büchern befand sich außerdem eine Fülle unterschiedlicher Einlagen: Zeitungsausschnitte und Notizzettel belegen seine intensive Beschäftigung mit einzelnen Themen und Autoren; Rechnungen, Metro-Tickets, Geldscheine und gepresste Pflanzen sind Zeugen seines Alltags. All diese Spuren wurden durch normierte Schlagwortketten und Beschreibungen in Textform im Online-Katalog abgebildet. Dies lässt verschiedene Recherchemöglichkeiten zu: Man kann zum Beispiel nachvollziehen, zu welchem Zeitpunkt sich Paul Celan mit einem Dichter befasste. Man stößt auf Bücher, die frühe Vorstufen von Celans Übersetzungen oder eigenen Gedichten enthalten. Und man kann erahnen, welche Beziehung zwischen Autor und Übersetzer bestand, wenn die Bände Widmungen aufweisen.

Paul Celan lebte ab 1948 in Paris und war mit einer Französin verheiratet. So erstaunt es nicht, dass er sich unter anderem auf die Übertragung französischer Dichter konzentrierte. Valérys Junge Parze und Rimbauds Trunkenes Schiff nahm er wie selbstverständlich in Angriff, ihrer oft postulierten Unübersetzbarkeit zum Trotz. Mit dem dichterischen Werk von Jules Supervielle (1884-1960) beschäftigte er sich über zehn Jahre lang. Seine Bibliothek bezeugt dieses lebhafte Interesse: Sie enthält dreizehn Titel von bzw. über Supervielle, darunter den Sammelband Choix de poèmes, der Celan als Arbeitsexemplar diente.

Kurz bevor Supervielle 1960 starb, lernten sich die beiden Dichter noch kennen.[1] Sie verband weit mehr als ihr Beruf, hatten sie doch beide den Verlust ihrer Eltern zu verarbeiten und waren zu Gast in einem anderssprachigen Land. So dichtete Celan Deutsch in Frankreich, Supervielle Französisch in Uruguay. Wie die Bücher in Celans Bibliothek belegen, war die Sympathie gegenseitig. So widmete Supervielle seinen Band Le corps tragique Celan „von Dichter zu Dichter“; Celan wiederum wollte seine Supervielle-Übertragungen ausdrücklich als Hommage an den älteren Lyriker verstanden wissen. Ist man allgemein daran interessiert, welches Verhältnis Celan zu den von ihm übersetzten Dichtern hatte, kann man nach weiteren Widmungen recherchieren. Dann taucht ein ganzes Netz von Beziehungen und Bezügen auf, nicht nur zwischen Celans Büchern, sondern auch zwischen seiner Bibliothek und der anderer Autoren und Literaturübersetzer, die nach und nach erschlossen werden.

Beim oben erwähnten Arbeitsexemplar Choix de poèmes wurde im Online-Katalog der Zeitraum von Juni 1960 bis August 1967 erfasst, in dem sich Celan mit Supervielle beschäftigte. Die Übersetzungsdaten stehen sowohl neben den Gedichten als auch im Inhaltsverzeichnis. Zahlreiche Gedichte sind angestrichen, daneben oft der Vermerk „übersetzt“ (S. 232) oder auch nur „üb“ bzw. „ü“. Dies hatte vermutlich organisatorische Gründe. Celans erste Supervielle-Übersetzung erschien im Insel-Almanach von 1959, einige weitere dann im Dezember 1960 in der Neuen Zürcher Zeitung und 1961 in der Neuen Rundschau, bevor 1967 das Gedicht Gottestrauer ebenfalls in der Neuen Zürcher Zeitung abgedruckt wurde.[2] 1968 schließlich legte der Insel-Verlag eine Buchpublikation vor, in der die schon früher unter ihren französischen Originaltiteln veröffentlichten Gedichtübertragungen nun mit ihren deutschen Titeln aufgenommen wurden. Für die Buchpublikation übersetzte Celan also weitere Gedichte und hakte das bereits Übertragene in seinem Arbeitsexemplar ab. Darin ist auch belegt, dass er dabei selbst kurzzeitig durcheinander kam: Bei der Übersetzung des letzten Teils von La belle morte war er sich laut Randnotiz nicht mehr sicher, wo die Übertragung zuerst erschienen war (S. 64). In den organisatorischen Aspekt der Gedichtkennzeichnungen lässt sich zudem noch ein emotionaler hineininterpretieren, wenn das „übersetzt“ wie in vielen Fällen zwei- oder dreifach unterstrichen ist – Genugtuung über das Geleistete kommt darin zum Ausdruck und gleichzeitig ein für das jeweilige Gedicht bewusster Abschluss der Übersetzungsarbeit.

In Zukunft soll der Online-Katalog noch soweit angepasst werden, dass über die Provenienzketten zu weiteren Büchern mit den gleichen Spuren navigiert werden kann. Dann lassen sich anhand der Datumsketten weitere Zusammenhänge aufdecken: So befasste sich Celan am 2. Juni 1960 nicht nur intensiv mit Jules Supervielle – das Datum findet sich sowohl in seinem Arbeitsexemplar als auch in Gravitations – sondern auch mit Rudolf Borchardt. An diesem Tag kaufte er in der Pariser Librairie Joseph Gibert dessen Ausgewählte Werke 1900-1918.

Die Datierungen und Anstreichungen belegen die Vorbereitung auf die Übersetzungsarbeit. Die eigentliche Tätigkeit des Übersetzens schließlich hat in Celans Arbeitsexemplar zahlreiche Spuren hinterlassen. So finden sich vielfach Übersetzungsansätze, daneben auch vollständige Übertragungen. Da mit dem Thesaurus der Provenienzbegriffe handschriftliche Eintragungen nur pauschal als „Notiz“ erfasst werden können, wurde bei der Erschließung der Bibliothek Celan zusätzlich das Schlagwort „Übersetzung“ vergeben. Sucht man unter diesem Aspekt, findet man alle Bücher, die Übersetzungsansätze oder vollständige Gedichtübertragungen enthalten, so zum Beispiel Bände von Ossip Mandelstamm, Giuseppe Ungaretti und René Char, mit denen sich Celan lange beschäftigte.

Choix de poèmes enthält alle Stufen von Celans Arbeit an den Gedichten. Zum Teil notierte er nur bestimmte Wendungen innerhalb eines Gedichts wie z. B. bei Bonne garde. Hier findet sich mit Bleistift eine typisch Celan’sche Übersetzung von „reprenant fourrure“, nämlich „rückgepelzt“ (S. 228). Bonne garde allerdings wurde letztlich gar nicht übersetzt; die deutsche Version von „reprenant fourrure“ fiel Celan vermutlich spontan ein, eventuell beim flüchtigen Überlesen des Gedichts, und wurde vorsorglich festgehalten. Bei Le hors-venu (S. 141) dachte Celan mit dem Bleistift über mehrere deutsche Varianten des Titels nach, aber auch dieses Gedicht wurde nicht übersetzt. Welche Gedichte auf Deutsch publiziert werden sollten, stand offenbar nicht von Anfang an fest. Celan tastete sich langsam heran und probierte aus, welche ihm am meisten lagen.

Neben diesen bloßen Ansätzen sind mehrere Gedichte vollständig übersetzt enthalten, so z. B. Krieger des Finstern (Guerrier de l’obscur, S. 208). Die erste, am 5. Juni 1967 entstandene Bleistiftfassung ist deutlich lesbar und eignet sich deshalb gut für einen Vergleich mit dem schließlich im Insel-Verlag abgedruckten Text. Legt man die noch rohe Bleistiftfassung und die publizierte Übertragung nebeneinander, stellt man staunend fest, dass die Endfassung nur eine, allerdings bedeutende Änderung aufweist, nämlich den Wechsel in der Übersetzung des Anredepronomens „vous“ des im Gedicht direkt angesprochenen Kriegers. Aus dem ursprünglich gewählten „ihr“ macht Celan „du“ – die deutsche Sie-Form kam für ihn offenbar von Anfang an nicht in Betracht. Er wich daher zunächst in den Plural aus, kehrte dann aber zu dem auch im Original gewählten Singular zurück.

Die Provenienzerschließung weist somit auf ein Zwischenstadium der später publizierten Übertragungen hin. Es ist, als würde man Paul Celan bei der Arbeit über die Schulter sehen – ein Glücksfall für jeden Übersetzer. Natürlich kann die bibliothekarische Erschließung nur Hinweise auf die in den Büchern vorhandenen Spuren geben, sie nimmt dem Forscher die Arbeit nicht ab. Aber er muss nicht mehr alle Bände durchblättern, sondern erhält interessante Informationen schon vorweg. Vielleicht wird sein Blick auch auf ganz neue Zusammenhänge gelenkt.

Die Kaffeeflecken, die sich übrigens auch in Celans Arbeitsexemplar finden, sind die einzigen Spuren, auf die keine Provenienzkette hinweist: Ein paar Geheimnisse muss man den Büchern ja noch lassen.

Mehr zur Erschließung der Bibliothek Paul Celan finden Sie >>hier

>>Hier kann man die Suche nach Provenienzspuren ausprobieren.

Supervielle, Jules: Choix de poèmes. Paris: Gallimard, 1947 [Marbacher Signatur: BPC:QD481]
Supervielle, Jules: Le corps tragique. Paris: Gallimard, 1959 [Marbacher Signatur: BPC:QD482]
Supervielle, Jules: Gedichte (Dt. von Paul Celan). Frankfurt am Main: Insel, 1968
Supervielle, Jules: Gravitations : poèmes. Paris: Gallimard, 1925 [Marbacher Signatur: BPC:QD484]
Borchardt, Rudolf: Ausgewählte Werke 1900-1918. Berlin: Rowohlt, 1925 [Marbacher Signatur: BPC:K009]

Paul Celan, 1920 in Czernowitz als Paul Antschel geboren, arbeitete bis zu seinem Selbstmord im Jahr 1970 als Lektor, Sprachlehrer, Übersetzer und Lyriker. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Nachkriegszeit. Unter den von ihm übersetzten Autoren finden sich unter anderem Alexander Blok, William Shakespeare, Giuseppe Ungaretti und Ossip Mandelstamm.

Katja Buchholz ist Übersetzerin und Bibliothekarin. Sie arbeitet z. Zt. im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und hat die Autorenbibliothek von Paul Celan erschlossen.

[1] vgl. dazu S. 565-567 des Ausstellungskatalogs „Fremde Nähe – Celan als Übersetzer der Dt. Schillergesellschaft von 1997.

[2] s. die „Bibliographie der Übersetzungen Paul Celans: Stand: 1.Januar 2002“ von Peter Goßens im Celan-Jahrbuch 8.

2 Kommentare zu „Trank Paul Celan beim Lyrikübersetzen Kaffee?“

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  1. Sehr geehrte Frau Buchholz,
    danke für diesen Artikel, der mir mehr über Paul Celan vermittelt hat. Ich hatte mich aber gerade zum Thema Übersetzungen über den von mir verehrten Lyriker geärgert, siehe http://rheumatologe.blogspot.de/2013/01/das-leid-mit-ubersetzungen-von-gedichten.html. Könnten Sie sich einmal auf die Suche nach dem Band von Bosquet machen und nachschauen, ob sich Begründungen finden lassen, warum es zu dieser Form der Übersetzung gekommen ist?
    Mit freundlichen Grüßen!
    Lothar M. Kirsch

    • Katja Buchholz sagt:

      Sehr geehrter Herr Kirsch,
      vielen Dank für Ihre Rückmeldung zu meinem Artikel. Ich habe mir Ihren Blog und den Gedichtband von Bosquet gerade angesehen. Wie Sie schreiben, hätten Sie sich eine textgetreue, nach Ihren Beispielen zu urteilen eine Wort-für-Wort-Übertragung gewünscht. Ich denke, Paul Celan hat bei seinen Lyrikübersetzungen einen anderen Ansatz verfolgt. Eine Wort-für-Wort-Übertragung eines Gedichts kann zwar den Inhalt transportieren, aber nicht den Eindruck wiedergeben, den das Gedicht in der Originalsprache als Gesamtkunstwerk mit seinen Bildern, seinem Reim und seinem Rhythmus beim Leser erzeugt. Wenn Celan „Tu es la tragédienne qui mérite / vingt suicides par jour …“ mit „Der Lohn für deine Trauerspiele wäre / ein zwanzigfacher Tod von eigner Hand an einem Tage …“ übersetzt, dann fügt er ja weder etwas hinzu, noch lässt er etwas weg, der Inhalt ist im Deutschen beispielsweise nur in eine andere Wortart gewandert (wie bei „tragédienne“, das in „deine Trauerspiele“ aufgefangen wird). Erst dadurch entsteht in der Zielsprache ein lyrischer Text. Diese Freiheit muss man jedem Übersetzer zugestehen, der nicht „nur“ eine Wort-für-Wort-Übertragung anstrebt. Sicher geht dabei vielleicht auch mal etwas verloren, wie z.B. die Gazelle, deren Abwesenheit Sie bedauern, wenn Celan „Ton désespoir, cette soif de gazelle …“ mit „Deine Verzweiflung – Durst, den keiner stillt“ übersetzt. Das Bild des ungeheuren Durstes bleibt aber nichtsdestotrotz auch im Deutschen erhalten. Eine Gleichheit des Textes auf allen Ebenen kann nie erreicht werden. Vielleicht können Sie sich unter diesem Aspekt ein bisschen mit Celans Bosquet-Übersetzung versöhnen?
      Viele Grüße aus Marbach!
      Katja Buchholz