Buchcover Wegbereiter der Dichter
Radegundis Stolze über die Verleihung des Karl-Dedecius-Preises 2011

Alle zwei Jahre erhalten jeweils eine Übersetzerin oder ein Übersetzer aus Deutschland und ein Kollege oder eine Kollegin aus Polen 10.000 Euro als Anerkennung für herausragende Übersetzungen. Esther Kinsky und Ryszard Turczyn haben dieses Jahr den von der Robert Bosch Stiftung vergebenen Übersetzerpreis bekommen. Die Verleihung am 20. Mai 2011 in Darmstadt fand just am 90. Geburtstag von Karl Dedecius statt, dem Namenspatron sowie Gründer und ersten Direktor des Deutschen Polen-Instituts mit Sitz in Darmstadt. So war dies eine ganz besondere Geburtstagsfeier und der Jubilar wurde von der großen Festgemeinde mit dem polnischen Glückwunschlied Sto Lat geehrt. Eine zentrale Gestalt des deutsch-polnischen Kulturaustausches war Dedecius aber schon, bevor er 1979 die Gründung des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt anregte. Seit den 1950er Jahren hatte er an der Übersetzung polnischer Literatur ins Deutsche gearbeitet, was schließlich den Grundstock der Bibliothek des Instituts bildete. Dieses arbeitete zunächst abseits des politischen Alltags, und so gelangen ihm wesentliche Schritte der kulturellen Völkerverständigung.

Soeben erschien im Insel-Verlag eine neue Anthologie, herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius: Meine polnische Bibliothek. Sie umfasst Texte aus neun Jahrhunderten und ist so etwas wie die Summe seiner lebenslangen Beschäftigung mit der Kultur und Literatur unseres Nachbarlandes Polen. „Lyrik ohne Empfindung ist nichts“, sagt Dedecius. Manchmal dauert es Wochen, bis er den passenden Reim, das treffende Wort oder jene Redewendung findet, die den Sinn besser fasst, als es die spontane wörtliche Übersetzung vermag. Ein guter Übersetzer – so Dedecius – sucht den „Geist“ eines Textes, seine Musikalität und auch die Empfindung, die der Text auslösen kann. Eine solche Haltung zu Texten und ihrer Übersetzung haben auch die diesjährigen Träger des Karl-Dedecius-Preises.

Esther Kinsky (*1956) studierte Slawistik und Anglistik in Bonn und Toronto. Sie arbeitet seit 1985 als freie Übersetzerin aus dem Polnischen, Englischen und Russischen. Seit einem Vierteljahrhundert widmet sie sich kontinuierlich der Vermittlung polnischer Literatur im deutschsprachigen Raum und hat Werke von insgesamt mehr als 25 Schriftstellern übersetzt. Allein von Olga Tokarczuk liegen acht Bücher in ihrer Übertragung vor. Seit Beginn ihrer Übersetzungstätigkeit hat sie immer wieder in Deutschland bis dahin unbekannte Autorinnen und Autoren entdeckt und gefördert, so etwa Ida Fink, Miron Białoszewski, Piotr Szewc, Adam Wiedemann, Mariusz Szczygieł, Magdalena Tulli, Zyta Rudzka und Johanna Bator. Nie war ihre Textauswahl offensichtlich, das heißt sie war nie für Schreib- und Lesemoden anfällig, und ihre Übersetzungen haben nicht den Charakter von Auftragsarbeiten – dies wurde in der Laudatio der Verlegerin Beata Stasińska besonders betont. Vielmehr war sie von unbekannten jungen Schriftstellern fasziniert, die sie für den deutschen Markt entdeckte. Die schon mehrfach ausgezeichnete Kinsky ist selbst auch Autorin, z.B. der Romane Sommerfrische oder Banatsko. So wurde Esther Kinsky in Deutschland in ihrem Bereich immer mehr zu einer Institution. Heute wenden sich Redakteure und Verleger auf der Suche nach neuen polnischen Talenten oder auch vergessenen Größen der Literatur an sie.

Ryszard Turczyn (*1953) studierte Germanistik in Warschau und übersetzt seit mehr als 30 Jahren aus dem Deutschen und dem Niederländischen ins Polnische. Er ist heute auch als Literaturagent tätig. Turczyn übersetzte beispielsweise Die Klavierspielerin als erstes Prosawerk von Elfriede Jelinek ins Polnische. Er hatte jahrelang nach einem Verlag für dieses Werk gesucht. Zur Preisverleihung wurde nun ein Grußwort von Elfriede Jelinek verlesen. Als sie dann 2004 den Literaturnobelpreis verliehen bekam, war dieses Buch das einzige, welches in polnischer Sprache vorlag. So etwas ist ein seltener Glücksmoment für Übersetzer. Der deutsche Autor und Laudator Tim Staffel, dessen Werke auch von Turczyn übertragen wurden, zitierte aus einer Begegnung mit seinem Übersetzer: „Er sagte, es kommt ihm darauf an, dass die Sprache des Originals bei ihm andockt und ein entsprechendes Klangfeld in seiner Sprache evoziert. (…) Es geht um einen speziellen Sound, für den man ein Gefühl in sich trägt, und dann geht es darum, diesen Sound zum Klingen zu bringen – so habe ich ihn verstanden, und darin habe ich mich wiederentdecken können.“ Insgesamt übersetzte Turczyn über 30 belletristische Titel, dazu kommen Kinderbücher und populäre Sachbücher – darunter historische Werke von Guido Knopp, Jean Amérys Hauptwerk Jenseits von Schuld und Sühne, Reportagen von Günter Wallraff und Erich von Däniken – sowie philosophische Texte, Theaterstücke und Hörspiele.

Für das Deutsche Polen-Institut (DPI) rühmte dessen Präsidentin Rita Süssmuth das, „was man im besten Sinne nachhaltiges Schaffen nennt“, nämlich die Arbeit an bleibender Literatur und an den deutsch-polnischen Beziehungen, DPI-Direktor Dieter Bingen erinnerte an Helmut Schmidt, der Dedecius einmal den „Pontifex der Versöhnung“ genannt hatte, und der Oberbürgermeister Walter Hoffmann betonte die Bedeutung des Instituts für die Stadt Darmstadt und ihre Verantwortung.

Übersetzer zeichnen sich durch einen suchenden und schöpferischen Geist aus, der sie durch die verschiedensten Erfahrungen, Orte, Umfelder und Sprachen führt. So wurde in den Festreden betont, dass beide Preisträger viel reisen und daher auch für ein sog. Reisestipendium dankbar sind. Um fremde Kulturen verstehen zu können, sollte man in gewisser Weise in sie eintauchen. Dann wird es eher gelingen, den Texthintergrund in der Übersetzung implizit (oder auch explizit) zu formulieren. Dieser Texthintergrund meint nicht nur politische Fragen einer Koexistenz von Nachbarstaaten.

„Kultur ohne Politik gelingt nicht, Politik ohne Kultur versandet“, sagte Dedecius zum Ende der Preisfeier in seiner Ansprache. „Die Völker haben zweierlei Geschichte – die eine schreiben die Historiker, die andere die Poeten. Einzeln zur Kenntnis genommen, sind sie nur die halbe Wahrheit.“

Radegundis Stolze, Dr. phil., Dipl.-Übers., ist wissenschaftliche Autorin im Bereich Übersetzungswissenschaft, Lehrbeauftragte am Sprachenzentrum der Technischen Universität Darmstadt und selbständig tätig als Übersetzerin.