Buchcover Man nehme: drei Lesezeichen
Elisabeth Schmalen über Tiere essen von Jonathan Safran Foer, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Isabel Bogdan, Ingo Herzke und Brigitte Jakobeit

Was geschieht, wenn ein renommierter Romanautor wie Jonathan Safran Foer sich mit einem Sachthema auseinandersetzt? Es entsteht ein Buch, das sich nur schwer einem Genre zuordnen lässt: Tiere essen ist einerseits ein Sachbuch über ein Thema, das in letzter Zeit einen immer größer werdenden Platz in der öffentlichen Diskussion eingenommen hat – die Bedeutung des stetig wachsenden Fleischkonsums für Tier, Mensch und Umwelt. Andererseits ist das Buch aber nicht nur eine sachliche Dokumentation, sondern auch ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht über eine Reise in Bereiche unserer Gesellschaft, über die wir meist gar nicht allzu viel wissen möchten. Denn Foer ist eben kein reiner Sachbuchautor, sondern Literat, und als solcher bringt er einige der Elemente, die man schon aus seinen früheren Romanen kennt, wie z.B. die Collage verschiedenster Textarten und die Aufarbeitung der jüdischen Geschichte, auch in dieses Werk ein. Und gerade die literarischen Qualitäten machen Tiere essen zu einem spannenden und gleichzeitig zutiefst eindringlichen Buch.

Als Auslöser für seine intensive Recherche zum Thema „Woher kommt das Fleisch, das wir essen?“ nennt Foer die Geburt seines Sohnes. Die Verantwortung für ein Kind bringt ihn dazu, nach einer Antwort auf diese bis dahin nur halbherzig gestellte Frage zu suchen. Aus diesem Grund macht er eine ausgedehnte Reise durch die USA. Er besucht die unterschiedlichsten Tierhaltungsbetriebe, spricht mit Farmern, Tierrechtlern und Schlachthofangestellten, mit Vegetariern, Fleischessern und Veganern, verschafft sich ein Bild über die Gesetzeslage und deren Ausführung in der Realität. In seinem Buch präsentiert er nun die Ergebnisse dieser Recherche als eine Art Collage: Schilderungen der Grausamkeiten in der Massentierhaltung und der Versuche einiger Bauern, Tiere artgerecht aufzuziehen und dann zu einem entsprechenden Preis zu verkaufen, stehen neben unkommentiert übernommenen Stellungnahmen von u.a. Farmern und einer Tierrechtlerin sowie Zitaten aus offiziellen Berichten und Statistiken. Dieser Aufbau verdeutlicht die Hauptintention Foers: Sein Buch ist kein Plädoyer für den Vegetarismus (obwohl er selbst von Tiere essen genau das erwartet hätte, wie er gleich im ersten Kapitel zugibt), sondern es soll dem Leser alle Facetten der Tierhaltung vor Augen führen, damit dieser selbst eine Entscheidung treffen kann. Ein großer Teil des Buches besteht darin, dass Foer Fakten und Meinungen präsentiert, wobei er ein auffallendes Talent dafür beweist, abstrakte Zahlen greifbar zu machen:

Nach konservativen Berechnungen des Umweltschutzamtes EPA produziert ein Schwein zwei- bis viermal so viel Fäkalien wie ein Mensch; im Falle Smithfield heißt das ungefähr 127 Kilo für jeden US-Bürger. Und das wiederum bedeutet, dass Smithfield allein mindestens so viele Fäkalien ausscheidet wie die gesamte Bevölkerung der Bundesstaaten Kalifornien und Texas. […] Stellen Sie sich vor, [es] gäbe […] bloß eine riesige Grube unter freiem Himmel, in die jeder Mann, jede Frau, jedes Kind in Kalifornien und Texas einen Tag lang pinkeln und kacken würden. Und stellen Sie sich jetzt vor, das würden sie nicht nur einen Tag lang tun, sondern das ganze Jahr, für immer und ewig. (So die Übersetzung von Isabel Bogdan, Ingo Herzke und Brigitte Jakobeit.)

Das Besondere an Foers Buch ist aber, dass er weiter geht, als nur die Fakten zu präsentieren. An vielen Stellen reflektiert der Autor über die Bedeutung des Essens für die Menschheit, aber auch konkret für sich selbst und seine Umgebung, er flicht Anekdoten aus der Familiengeschichte ein und denkt über sein Leben in Bezug auf den Konsum von Tieren nach. Deutlich wird: Essen bedeutet für Foer nicht nur die Aufnahme von Nahrungsmitteln zum Zweck des körperlichen Fortbestehens, sondern immer eine persönliche Erfahrung, hinter der sich eine Geschichte verbirgt:

Meine Großmutter überlebte den Krieg, weil sie barfuß in den Abfällen anderer Leute nach Nahrung suchte: nach vergammelten Kartoffeln, weggeworfenen Fleischstücken, Schalen und den Resten, die an Knochen und Obstkernen hingen. Deshalb störte es sie nie, wenn ich über die Ränder malte, solange ich nur Gutscheine entlang der gestrichelten Linien ausschnitt. Wenn wir uns am Hotelfrühstück labten, schmierte sie ein Sandwich ums andere, wickelte sie in Servietten und verstaute sie als Mittagessen in ihrer Tasche.

An solchen Stellen ist das Buch mehr als ein Sachbuch: Hier versucht kein ausgewiesener Experte, weniger fachkundigen Lesern ein Thema nahezubringen; stattdessen wird dem Leser eine Geschichte erzählt. Man wird spürbar Zeuge des Prozesses, den die Konfrontation mit der Realität des Fleischkonsums und die sich daraus ergebenden grundsätzlichen Überlegungen zum Thema Essen bei Foer auslösen, wobei niemals in Frage gestellt wird, dass es sich um eine individuelle, persönliche Reaktion handelt. Jedem Menschen bleibt selbst überlassen, wie er sich entscheidet, wenn er die Fakten kennt.

Was geschieht nun, wenn ein Sachbuch zu einem so kulturell bedingten Verhalten wie dem Essen in einen neuen Kontext, hier den deutschsprachigen, übertragen wird? Die Fakten, die man als Grundlage für eine bewusste Entscheidung kennen muss, spielen eine große Rolle bei der Übersetzung des Buchs. Foer schreibt über die Situation in den USA, dort lebt und isst er und dort hat er recherchiert. Eine unkommentierte Übersetzung des amerikanischen Textes ins Deutsche kann daher nicht genug sein, denn damit würde für die deutsche Leserschaft der Sachbuchaspekt verloren gehen. Das Buch wäre für sie nicht konkret informativ, sondern beschriebe eine Welt, die von der eigenen so weit entfernt ist, dass sie nicht interessiert. Dadurch wäre eine wichtige Ebene des Buchs verloren gegangen: Es hätte die deutsche Gesellschaft nicht so aufrütteln können wie es bei der amerikanischen der Fall war, da der Bezug zum alltäglichen Leben des Lesers gefehlt hätte.

Zum Glück hat sich der Verlag für einen anderen Schritt entschieden: Erstens findet sich in der deutschen Übersetzung ein speziell dafür verfasstes Vorwort von Foer (das mit einer Seite so kurz ist, dass es wahrscheinlich auch von den meisten Lesern gelesen wird), in dem er betont, dass sich die Situation in Deutschland zwar in Detailfragen von der in den USA unterscheidet, grundsätzlich aber dieselben Strukturen vorherrschen. Zweitens ist die deutsche Ausgabe mit einem Anhang versehen, in dem der Vegetarierbund Deutschland (VEBU) in ergänzenden Anmerkungen zum Text die Situation in Deutschland erläutert. Zwar wird in diesem Anhang nicht zu jeder Zahl, die Foer nennt, das deutsche Äquivalent genannt (an einigen Stellen gibt es keine entsprechenden Untersuchungen, außerdem kann man wohl davon ausgehen, dass eine bis ins letzte Detail reichende Recherche zu zeitintensiv gewesen wäre – schließlich hat auch Foer mehrere Jahre damit verbracht), aber er bietet ein guten Einblick in die Verhältnisse der deutschen bzw. europäischen Fleischindustrie.

Jedoch droht der Anhang des VEBU unterzugehen, da ihm ein fast siebzigseitiger Anhang Foers vorausgeht, in dem dieser die Quellen nennt und weitere Informationen zu seinen Aussagen gibt. Dieser doppelte Anhang führt dazu, dass derjenige Leser, der alle Informationen, die das Buch bietet, in der ‚richtigen‘ Reihenfolge aufnehmen will, zu einer koordinatorischen Meisterleistung gezwungen wird: Er muss stets an drei Stellen gleichzeitig lesen. Diese Komplikation wäre zu vermeiden gewesen, wenn die Hinweise zum deutschen Markt, die deutlich weniger umfangreich sind als Foers Zusatzinformationen, direkt als Fußnoten aufgenommen worden wären. Das hätte den Lesern viel Hin- und Herblättern und das dritte Lesezeichen erspart – kann andererseits aber auch als kleiner Hinweis auf die Verortung des Texts im literarischen Bereich verstanden werden, denn dort sind Fußnoten verpönt, während sie in Sachbüchern zum Erscheinungsbild dazugehören.

Trotz dieses kleinen lesetechnischen Nachteils kann die Art und Weise der Übertragung ins Deutsche aber nur gelobt werden. Einerseits erlangt der Text durch den Anhang des VEBU denselben informativen Gehalt für den deutschen Leser, den Foers Buch für den amerikanischen hat. Durch das Hinzufügen der Angaben zu den deutschen Verhältnissen sind die literarischen Qualitäten des Texts – die bildliche Sprache, die eingeflochtenen persönlichen Erfahrungen – erhalten geblieben, die sicherlich gelitten hätten, wenn diese Angaben die amerikanischen im Text einfach ersetzt hätten – durchaus keine Seltenheit in Sachbüchern, die auf diese Art für den entsprechenden Lesermarkt angepasst werden.

Die deutsche Leserschaft hält somit ein Buch in Händen, das sich genau wie der Originaltext in keine Schublade stecken lässt – und genau das macht es zu einem faszinierenden Leseerlebnis.

Jonathan Safran Foer: Tiere essen, übersetzt von Isabel Bogdan, Ingo Herzke, Brigitte Jakobeit, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, 400 Seiten, 19,95 €

Jonathan Safran Foer: Eating Animals, London: Hamish Hamilton 2009, 340 Seiten, 16,95 €

Jonathan Safran Foer wurde 1977 als Sohn jüdisch-amerikanischer Eltern geboren. Schon sein Debütroman Alles ist erleuchtet (2002, deutsche Übersetzung 2003) wurde zu einem in den Feuilletons hochgelobten großen Erfolg, ebenso wie sein zweiter Roman Extrem laut und unglaublich nah (2005). Tiere essen ist sein erstes Sachbuch. Foer lebt in New York und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Autor als Dozent für Kreatives Schreiben an der New York University.

Isabel Bogdan übersetzt seit 10 Jahren aus dem Englischen, u.a. Bücher von Miranda July, Sophie Kinsella und Alice Sebold. Sie lebt in Hamburg.

Ingo Herzke übersetzte u.a. Alan Bennett, A.L. Kennedy und Edward St. Aubyn und gewann 2001 und 2006 den Hamburger Förderpreis für Übersetzer. Er lebt ebenfalls in Hamburg.

Brigitte Jakobeit übersetzt seit 20 Jahren aus dem Englischen, z.B. Audrey Niffenegger, Alistair McLeod und die Autobiographie von Miles Davis. Auch sie lebt in Hamburg.

Der Vegetarierbund Deutschland (VEBU) ist ein 1892 gegründeter Verein, der sich die Verbreitung der vegetarischen Lebensweise und die Aufklärung über ihre Hintergründe auf die Fahnen geschrieben hat.

Elisabeth Schmalen studierte Literaturübersetzen mit den Sprachen Englisch und Spanisch in Düsseldorf und Madrid. Vor dem Studium verbrachte sie ein Jahr in Südnorwegen. Zurzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.