Buchcover Dem Sklavendasein abhold
Vera Elisabeth Gerling über Die Vergangenheit von Alan Pauls, aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Christian Hansen

„Die Droge, die wahre Droge, war das Übersetzen: die wahre Abhängigkeit, Sehnsucht, Verheißung“ – so sieht es Rímini, Protagonist des Romans Die Vergangenheit des argentinischen Autors Alan Pauls. Der Übersetzer Rímini hat sich nach zwölf Jahren Ehe von seiner Frau Sofía getrennt. Jetzt übersetzt er, koksend und onanierend, und geht dabei auch noch neue Beziehungen ein. Obwohl die Trennung von seiner Jugendliebe Sofía in gegenseitigem Einverständnis beschlossen wurde, wird es für sie zur Obsession, ihn zurückzugewinnen. Jede der von ihr initiierten Begegnungen endet für Rímini in einer neuen Lebenskatastrophe, bis die beiden ihren endgültigen Untergang einvernehmlich und eigentümlich gelassen hinnehmen.

Soweit ein kurzer Einblick in die Handlung des Romans. Das eigentliche Thema ist umfassender: Es geht um Erinnerung und die unaufhörliche Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart. Der Text liest sich wie eine Umsetzung aktueller Erinnerungstheorien unter Einbezug zahlreicher – stets unzuverlässiger – Gedächtnisspeicher und -medien: Sofía ist eine leidenschaftliche Verfasserin von Briefen, in denen sie die Vergangenheit heraufbeschwört, wobei sie ständig in Klammern Gegendarstellungen, Einschränkungen oder Zweifel einschiebt; durch eine extrem seltene Krankheit, „die sein Gehirn von der kleinen, aber feinen linguistischen Enzyklopädie reinigt[e], die er sich im Laufe seines Lebens erarbeitet hat[te]“, verliert Rímini nach und nach den Wortschatz aller vier zuvor beherrschten Fremdsprachen. Die gemeinsame und bei ihr verbliebene Fotokiste dient Sofía mehrmals als Anlass für eine erneute Kontaktaufnahme, und später macht es sich Rímini zur Aufgabe, jedes einzelne Foto mit seiner dazugehörigen, individuellen Erinnerung zu versehen, um doch feststellen zu müssen, dass diese weder erschöpfend noch allgemeingültig ist. Die Kunstwerke des fiktiven Künstlers Riltse, dessen so genannte „Sick Art“ Sofía und Rímini bewundern, konservieren verschiedene dem eigenen Körper abgetrotzte Teile, und eines, „Das Trügerische Loch“, dient der Bewahrung masturbierter Samenergüsse. Die teils widersprüchlichen Darstellungen des Künstlerlebens werden anhand von Zitaten aus zwei Biographien gegenübergestellt; Rímini erkennt im „erschöpfende[n] Portfolio von Lebensgeschichten“ eines zufällig entdeckten, mit zahlreichen Fotos geschmückten Buchcovers zunächst Vitalität, im nächsten Moment jedoch ein „von Maskenbildnern vorfabriziertes Glück“, eine von Profis „gemachte“ fotografische Wirklichkeit; verschiedene Situationen und Gegenstände lösen, ganz in der Tradition der Proust’schen Madeleine, unwillkürliche Erinnerungen aus – nicht umsonst lässt sich im Namen Riltse ein Anagramm seiner Parallelfigur Elstir aus der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust erkennen. Und auch in Pauls’ Roman ist die Wahrnehmung von Welt an die Erfahrung der Zeit gebunden, die für Rímini verschiedene Geschwindigkeiten annimmt. Bei einem Dolmetschauftrag ist er selbst – nachdem er an der Zeit „eine Art allumfassender Dehnung“ wahrgenommen hat – ihr gar voraus: „Das Original traf nach seiner Übersetzung ein“.

Dass Texte fragwürdige, durch die Chronologie des Erzählens verfälschte Abbilder der Wirklichkeit sind, zeigt auch die Machart des Romans selbst, und zwar in den – ebenfalls an Proust erinnernden – verschraubten, vor Metaphern strotzenden Satzungetümen, die sowohl die Komplexität von Gedankengängen abbilden als auch Widersprüchlichkeiten aufdecken und nebeneinander bestehen lassen. Die Handlung stagniert – und gerade das macht die Spannung des Romans aus –, wenn sich die nächste Katastrophe bereits ankündigt, sich einem aber Reflexionen in bisweilen Seiten füllenden Sätzen in den Weg stellen.

Die Vergangenheit liest sich in der Übersetzung von Christian Hansen wie ein sprachliches Kunstwerk, in dem man sich daran erfreuen kann, einen teils schon vergessenen Wortschatz neu zu entdecken. Wer Hansen liest, erfreut sich der deutschen Sprache! Was in diesem Fall zugleich bedeutet, dass der Roman von Alan Pauls auf Deutsch ein tatsächlich anregenderes Leseerlebnis ist als das Original. Hansen schöpft reichlich aus dem Wortschatz und den Registern der deutschen Sprache und scheut dabei auch kühne Metaphern oder Neuschöpfungen nicht: Da lässt ein Unwetter die Stadt „kopfstehen“ („enloqueciendo la ciudad“) und Sofía kommt in Begleitung eines Herrn, „der gerade eine genieste Gewitterfront in seinem Taschentuch erstickt[e]“ („que sofocaba en un pañuelo una racha de estornudos“). Während Nancy, eine von Ríminis Freundinnen, bei Pauls schlicht ihre Geldscheine auf die Tennisschlägerhülle fallen lässt („dejar caer los billetes del mes“), hat sie ihm bei Hansen „den monatlichen Obolus auf seine Schlägerhülle geschnippt“, später „bugsiert“ er sie ins Auto („la acomodó“). Im Gefängnis „tigert[e]“ er „in der Zelle auf und ab“ („dio vueltas impacientes por la celda“), einmal spricht jemand „im Blödelton des Kindergeburtstagsconferenciers“ („en una jerga de animador de fiestas infantiles“) und aus dem „estado de crispación“ wird ein „verhuschter Zustand“. Die starke Bildlichkeit des Romans wird von Hansen in besonderer Weise betont, wenn er z.B. „Rímini empezó a sentirse desguarnecido, a la intemperie, como un soldado desarmado en medio del campo de batalla“ übersetzt mit: „Rímini fühlte sich entblößt, unbehaust, wie ein entwaffneter Soldat im Kampfgetümmel“. Oder wenn er aus „sin desencadenar algún escándalo, un motín privado, en miniatura“ im Deutschen macht: „ohne irgendeinen Skandal, irgendeine private Westentaschenmeuterei vom Zaun zu brechen“.

Durch manche Ausgrabung aus den beinahe vergessenen Tiefen des deutschen Wortschatzes weiß Hansen das ironische Potential des Romans zu unterstreichen, etwa wenn er „la pintoresca y vasta corte de pacientes Breitenbach“ übersetzt mit „der umfängliche und pittoreske Hofstaat der Breitenbachschen Patientenschaft“ oder wenn vom „bestrickenden Charakter der Gefühle“ die Rede ist (für „el carácter envolvente de los sentimientos“), bis hin zu „ordnete sein Gemächt“ für „acomodándose la verga“. An einigen wenigen Stellen entsteht jedoch eine eher irritierende Ironisierung, wie in der Formulierung „weil die Liebe von Natur aus aller planerischen Spekulation abhold ist“ für „porque la felicidad es por naturaleza enemiga de toda especulación administrativa“ oder wenn Ríminis Trainer als Umsetzung einer schlichten Verlaufsform („incorporándose“) die Formulierung „zu diesem Behufe“ in den Mund gelegt wird.

Die Übersetzung überzeugt weiterhin in besonderem Maße hinsichtlich der lautmalerischen Beschaffenheit des Textes. Hansen bildet diese an den entsprechenden Textstellen gekonnt und mit der notwendigen lexikalischen Freiheit nach, wie wenn er bei „en medio de una frase, algo sobre flores, o dolores, o pobres“ nicht wörtlich mit „Blumen oder Schmerzen oder Arme“ übersetzt, sondern: „mitten in einem Satz über Rosen oder Blasen oder die Obdachlosen“. Da dies nicht immer so glücklich möglich ist, nutzt er andere Stellen zur Kompensation, z.B. durch eine akzentuiertere Alliteration bei „ihn nur auseinanderzufalten, könnte Katalysator für eine Kaskade von Katastrophen sein“ für „le pareció que con sólo abrirlo desencadenaría una cascada de catástrofes“.

Ein weiteres Element der übersetzerischen Strategie Hansens liegt in der Intellektualisierung des Romans über den Wortschatz, wie im Falle von „Körpersensationen“ („impresiones físicas“) oder „in Anbetracht seiner Novizenschaft“ („respecto de su condición de recién llegado“). Teils liegt dies auch darin begründet, dass im Spanischen aus dem Griechischen oder Lateinischen übernommene Wörter weniger den Status von Fremdwörtern haben als im Deutschen. Beispiele hierfür wären „die Idee der Imminenz“ für „la idea de la inminencia“, „Neonatologe“ für „neonatólogo“ oder auch „Parenthesen“ für „paréntesis“. Zugleich findet Hansen Wege, im Text zuweilen gleich die Erläuterung von Begriffen mitzuliefern, wie bei „Kauterisation“ und „Paroxysmus“. So wird im Falle von „Cada estocada de amor había penetrado en él y lo había herido de muerte y había desaparecido en el acto, como borrada por una cauterización instantánea“ durch das Verb „ätzen“ gleich die Bedeutung des Fremdworts mitgeliefert: „Jeder Stoß der Liebe hatte ihn durchbohrt, ihn tödlich verwundet und war auf der Stelle unsichtbar geworden, wie weggeätzt durch eine sofortige Kauterisation“. Die Bedeutung des Wortes „Paroxysmus“ erklärt Hansen durch die Voranstellung von „Nachbeben“. Er übersetzt „Todavía sentía en la piernas algún temblor, secuela tibia del paroxismo al que habían llegado juntos en el camarín del teatro“ mit: „Noch immer spürte er ein Zittern in den Beinen, wohliges Nachbeben des Paroxysmus‘, den sie in der Theatergarderobe zusammen erlebt hatten.“

Auch die Erinnerung als übergreifendes, abstraktes Thema des Romans wird von Hansen akzentuiert, indem er den Begriff der Erinnerungsbilder bemüht. So übersetzt er „vio el cuadro de Riltse, y apenas lo vio el cuadro se acopló con naturalidad a la serie de ramalazos que una hora atrás lo habían sorprendido“ mit „und er hatte es kaum gesehen, als es sich auch schon wie selbstverständlich in die Folge der Erinnerungsbilder einreihte, die ihn vor einer Stunde überrumpelt hatte.“ Durch die Hervorhebung des Themas der Erinnerung verdeutlicht Hansen den intellektuellen Anspruch des Romans und belässt ihn dadurch in genau der Schwebe, in der auch El pasado bleibt: An Pauls’ Roman wird gern kritisiert, er sei gänzlich unpolitisch. Denn der Roman spielt während der argentinischen Militärdiktatur, die als historischer Hintergrund jedoch nur angedeutet wird, und zwar in den Foltererfahrungen einer für den Romanverlauf gänzlich unwichtigen Figur. Doch erst die – von Hansen noch unterstrichene – Betonung des übergeordneten Themas von Vergessen und Erinnern ermöglicht es dem Leser, diesen Bezug als versteckten Subtext zu erkennen, den Roman demnach als sprachgewaltige Realisierung einer staatlich verordneten Amnesie zu lesen, als Beleg der Verführungsmacht des Vergessens, gegen die der Roman in Andeutungen anschreibt: „Pero nada era inolvidable. No hay immunidad contra el olvido“, mit Hansen formuliert: „Aber nichts war unvergesslich. Immunität gegen das Vergessen gibt es nicht“.

Insgesamt handelt es sich bei dieser Übersetzung um ein überzeugendes Beispiel dafür, wie die Treue zu einer Übersetzungsstrategie den Roman zu einem sprachlichen wie intellektuellen Genuss werden lässt. Der abschließend angeführte Satz vermag aufzuzeigen, wie der Leser im Wogen der Sätze durch den Roman gezogen wird und wie sprachlich (selbst-)bewusstes Übersetzen einem Ausgangstext nicht nur gerecht werden, sondern ihn sogar noch zu veredeln vermag. Für Rímini stellt sich das Übersetzen als eine „gnadenlose Form der Sklaverei“ dar, die ihn am Ende eines jeden Tages verstört und erschöpft entlässt. Hansen hingegen ist sprachlich begnadet und wahrlich dem Sklavendasein abhold:

Así, del mismo modo que se celebraban y promovían cualquier conflicto social, cualquier desgarramiento que pusiera en peligro a las instituciones burguesas, cualquier fisura por la que el orden real, profundo, invisible, filtrara sus oscuras disonancias en la superficie del orden visible, tan entusiasmados cuando los litigios se dimirían en su favor como cuando su resultado los perjudicaba, así también estaban dispuestos a celebrar cualquier incertidumbre que pudiera sacudir a Rímini y a Sofía, a profundizar sus debilidades y hasta a favorecer, escudados en una suerte de moral higiénica, las oportunidades que los desviaran del camino de reciprocidad exclusiva que habían elegido.

Und so, wie sie jeden gesellschaftlichen Konflikt feierten und förderten, jede Zerreißprobe für die bürgerlichen Institutionen, jeden Riss, durch den die tief verwurzelte, unsichtbare Ordnung der Wirklichkeit ihre dunklen Dissonanzen an die Oberfläche der sichtbaren Ordnung steigen ließ, gleichermaßen begeistert, wenn der Zwist in ihrem Sinne ausging, wie wenn er zu ihrem Nachteil ausschlug, genauso feierten sie bereitwillig jede Verunsicherung, die Rímini oder Sofía destabilisieren konnte, protergierten ihre Schwächen und förderten sogar, gedeckt durch eine Art moralischer Hygiene, Gelegenheiten, die sie von ihrem selbst gewählten Weg wechselseitiger Ausschließlichkeit abbringen sollten.

Alan Pauls: Die Vergangenheit, übersetzt von Christian Hansen, Stuttgart: Klett-Cotta 2009, 560 Seiten, 24,90 €

Alan Pauls: El pasado, Barcelona: Anagrama 2003, 560 Seiten, 24,50 €

Alan Pauls, geboren 1959 in Buenos Aires, ist Autor, Journalist, Regisseur und Filmkritiker. Er studierte Literaturwissenschaft und lehrte zeitweise Literaturtheorie an der Universität von Buenos Aires. Er schreibt für die Sonntagsbeilage der Tageszeitung Página/12 und verfasst Kolumnen für die brasilianische Zeitung Folha. Die Zeitschrift Lecturas Críticas wurde von ihm gegründet. Bislang sind fünf Romane von ihm erschienen. Für El pasado erhielt er den renommierten Preis Premio Heralde.

Christian Hansen,1962 in Köln geboren, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin. Seit fünfzehn Jahren übersetzt er spanische und lateinamerikanische Literatur ins Deutsche. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen Roberto Bolaño, Julio Cortázar, Mario González Suárez, Vizconde Lascano Tegui, Alan Pauls, Sergio Pitol und Guillermo Rosales. Für seine übersetzerischen Leistungen, insbesondere bei der Übersetzung von Roberto Bolaños Roman 2666, erhielt er 2010 den Jane-Scatcherd-Preis der Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Stiftung. Als Mitbegründer der Weltlesebühne, die in verschiedenen Städten Lesungen mit Übersetzern organisiert, ermöglicht er dem Übersetzen eine öffentliche Wahrnehmung.

Vera Elisabeth Gerling lehrt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf unter anderem im Studiengang Literaturübersetzen. Sie hat zur lateinamerikanischen Literatur in deutscher Übersetzung promoviert und verschiedene übersetzungswissenschaftliche Bücher und Aufsätze publiziert. Selbst übersetzt hat sie die argentinischen Autoren Fernando Sorrentino und Héctor Dante Cincotta.