Buchcover Argentinien. Kein Sommermärchen
Karolin Viseneber über Zweimal Juni von Martín Kohan, aus dem Argentinischen übersetzt von Peter Kultzen

 

Argentinien – ein Land im euphorischen Taumel der Fußballweltmeisterschaft. Das mediale Großereignis lässt den Nationalstolz erstarken und bestimmt nicht nur das Alltagsgeschehen, sondern auch die (inter)nationale Berichterstattung. Hinter den Kulissen werden Tausende von Gegnern des Militärregimes verfolgt, gefoltert und getötet oder verschwinden spurlos.

Der Roman Dos veces junio des argentinischen Autors Martín Kohan wählt als historische Rahmenhandlung zwei Momente jener Epoche, die als Niederlagen in die argentinische Sportgeschichtsschreibung eingegangen sind. Bei den Weltmeisterschaften 1978 und 1982 verliert Argentinien jeweils gegen Italien. 1978 bringt Argentinien den Titel trotz einer Niederlage dennoch nach Hause und feiert damit nicht zuletzt auch die Militärführung und ihre Propaganda. 1982 hingegen geht mit dem Ausscheiden der argentinischen Nationalmannschaft in Spanien auch die Ära der Militärherrschaft zu Ende, die sich noch ein letztes Mal durch den Falklandkrieg zu retten suchte.

Kohan zeigt jedoch gleichzeitig ein anderes Argentinien, das sich jenseits der Massenbegeisterung abspielt und in dem Verhaftungen, Menschenraub und geheime Folterzentren auf der Tagesordnung stehen. Erstaunlich erscheint dabei die neutral gehaltene Erzählerstimme, die die Gedanken eines einfachen Soldaten fokussiert. Bezeichnenderweise ist der Protagonist keiner der Mächtigen der Militärdiktatur, sondern ein kleines Rädchen im Getriebe, einer unter vielen, der zufällig aus der Masse der Gleichaltrigen herausgelost wurde, um den Wehrdienst anzutreten. Diesen leistet er nach der Grundausbildung als Fahrer für einen Militärarzt, der an den Folterungen in den geheimen Folterzentren der Diktatur beteiligt ist.

Im ersten Teil des Romans sieht man den Protagonisten während seines Militärdienstes im Jahr 1978, im zweiten Teil, 1982, ist er Medizinstudent und besucht seinen ehemaligen Vorgesetzten, nachdem er in der Zeitung gelesen hat, dass dessen Sohn im Falklandkrieg ums Leben gekommen ist. Die Handlung ist jedoch nicht linear erzählt, sondern zerfällt in kleine Unterkapitel. Neben der Geschichte des Protagonisten finden sich Aufzählungen, etwa die Aufstellung der Fußballspieler nach verschiedenen Vergleichsmomenten wie Alter, Größe oder Clubzugehörigkeit. Außerdem brechen immer wieder Bilder des Schreckens und der Folter anhand der Figur einer Verschwundenen, die in einem Folterzentrum festgehalten wird, in die Haupthandlung ein.

Der Protagonist zeigt sich den historischen Ereignissen gegenüber völlig teilnahmslos. Als er eines Tages die Notiz „¿A partir de qué edad se puede empesar a torturar a un niño?“ („Ab wieviel Jahren kann man ein Kind folltern?“) an seinem Arbeitsplatz findet, sorgt er sich einzig darum, jemand könnte seine heimliche Korrektur des Rechtschreibfehlers (empesar/folltern) bemerken. Immerhin geht es bei der Frage um den gerade geborenen Sohn der Gefangenen. Hintergrund ist eine gängige Praxis während der Militärdiktatur, bei der Schwangere bis zur Geburt am Leben gehalten wurden, um die Neugeborenen später an kinderlose Militärfamilien zu geben. Auch heute noch suchen viele Argentinier, wie das international bekannte Beispiel der Mütter der Plaza de Mayo zeigt, nach ihren verschwundenen Angehörigen.

Kohan spielt mit dem kollektiven Wissen der Argentinier über die Militärdiktatur, indem er nicht nur Symbole der Diktatur benutzt, wie zum Beispiel den Ford Falcon, das Auto, mit dem die Militärs ihre Gegner verschleppten, sondern auch eine Vielzahl von Persönlichkeiten, Orten und Anspielungen auf Praktiken und den Sprachgebrauch der Militärs einfließen lässt, die den historischen Kontext evozieren. Doch wie wird dieser Bezug auf das kollektive Wissen im deutschen Text umgesetzt? Hinweise, die sich nicht innerhalb des Romans auflösen lassen, werden in Anmerkungen erläutert. Dieses Verfahren ist auf dem deutschen Literaturmarkt nicht selbstverständlich und deshalb besonders zu betonen. Wenn beispielsweise im argentinischen Text der Protagonist und sein Vorgesetzter an der „puerta de la Escuela“ vorfahren, steht im deutschen Text ein kursiviertes „Escuela“, und in den Anmerkungen wird erklärt, dass es sich hierbei um eines der wichtigsten Folterzentren während der Diktatur, die ESMA, die Escuela Superior de Mecánica de la Armada, handelt.

Der Übersetzer Peter Kultzen schafft es, den neutralen Stil und die sprachlichen Register, so zum Beispiel die pseudomedizinischen Gespräche, die sachlichen Aufzählungen, die militärische Sprache, die mit einer Entmenschlichung der Gefangenen einhergeht, bis auf wenige Ausnahmen auch in der deutschen Übersetzung zu verwirklichen; außerdem findet er auch kreative Lösungen für kulturelle Besonderheiten und Wortspiele. So fragt zum Beispiel ein anderer Soldat den Protagonisten, ob er wisse, woher „colimba“, die umgangssprachliche Abkürzung für den Wehrdienst, stamme und erklärt, das käme von „corre, limpia, barra“, was soviel wie „laufen, putzen, fegen“ bedeutet und auf die Unterwürfigkeit und Hierarchie im militärischen System anspielt. Auch wenn der Protagonist dies natürlich weiß, lässt er seinem Gegenüber den Spaß, ihn über diese Bedeutung aufzuklären. Diese militärische Anekdote, die in der Übersetzung so nicht übernommen werden kann, wird einerseits durch die Bezeichnung „Barras“ für den Militärdienst aufgenommen und andererseits kurz darauf durch ein anderes Wortspiel in Anlehnung an den militärischen Kurzhaarschnitt ersetzt, wodurch auf den Gedanken der militärischen Gleichheit und den Anpassungszwang verwiesen wird: „Er meinte, mit Vokuhila sei hier natürlich nichts. Dann fragte er, ob ich wisse, wofür Vokuhila die Abkürzung sei. Obwohl ich sonst nicht lüge, sagte ich, nein, ich wisse es nicht. Er sagte: ‚Vorn kurz, hinten lang. Alles klar?‘“

Der aufschlussreiche und dabei höchst lesenswerte Roman Dos veces junio/Zweimal Juni macht deutlich, wie ein diktatorisches System überhaupt erst funktionieren kann: durch Komplizenschaft, Wegsehen und Schweigen. Die deutschen Leser können gespannt sein, was es – im Hinblick auf das Gastland der Frankfurter Buchmesse 2010 – in den kommenden Monaten noch alles an zeitgenössischer argentinischer Literatur in deutscher Übersetzung zu entdecken geben wird.

Martín Kohan: Zweimal Juni, übersetzt von Peter Kultzen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, 181 Seiten, 19,80 €

Martín Kohan: Dos veces junio, Buenos Aires: Sudamericana 2002, 189 Seiten

Martín Kohan wurde 1967 in Buenos Aires geboren. Er ist Dozent für Literaturtheorie und hat verschiedene Essays, Romane und Erzählbände veröffentlich. Zweimal Juni (2009) ist nach Sekundenlang (2007) der zweite Roman, der im Suhrkamp Verlag in deutscher Übersetzung von Peter Kultzen erscheint.

Peter Kultzen wurde 1962 in Hamburg geboren. Nach seinem Studium der Romanistik und Germanistik arbeitet er heute als Lektor und Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen.

Karolin Viseneber ist seit 2007 wissenschaftliche Angestellte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, sie arbeitet an einer Doktorarbeit über zeitgenössische argentinische Literatur. Seit September 2008 leitet sie den Bereich Literatur der ReLü.