Buchcover Degoutantes Doppelspiel
Nadine Alexander über Schöne Verhältnisse von Edward St. Aubyn, aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke

Die englische Familie Melrose hat einfach alles: David Melrose die richtige Abstammung und seine Frau Eleanor eine Menge ererbtes Geld. Gemeinsam haben die beiden einen fünfjährigen Sohn namens Patrick, Freunde aus den allerbesten Kreisen und ein Landhaus in der Provence. Das Leben könnte wunderschön sein – wenn Eleanor nicht darüber hinaus ein Drogenproblem hätte und David den unbezähmbaren Drang, andere zu quälen.

Nur an einem einzigen sonnigen Septembertag erhalten wir Einblick in das Leben der Melroses – lang genug jedoch, um die Abgründe hinter der noblen Fassade nur allzu deutlich zu erkennen. Für den Abend lädt das Paar zum Dinner, und wir werden Zeuge, wie Gastgeber und Gäste sich auf diesen gemeinsamen Abend vorbereiten. Mit verbalen Spitzen wird dabei nicht gegeizt: „Warum verbringt man den Abend mit Menschen, die man den ganzen Tag beleidigt hat?“, fragt die Amerikanerin Anne ihren englischen Ehemann, und dieser antwortet wie selbstverständlich: „Damit man am nächsten Tag Stoff für neue Beleidigungen hat.“

Während Eleanor sich auf den Weg macht, um einen Gast vom Bahnhof abzuholen, bleibt David Melrose auf dem Anwesen im südfranzösischen Lacoste zurück und widmet sich seinem liebsten Zeitvertreib, der gleichzeitig dem Geburtsort des Marquis de Sade sehr angemessen ist: Er lebt seinen Selbsthass an Mitmenschen aus. Die Opferrolle in diesem ständig neu aufgelegten Stück wird von David je nach verfügbarer Besetzung vergeben, meist muss die resignierte Eleanor sie übernehmen. Da sie außer Haus ist, nimmt David sich stattdessen seinen Sohn Patrick vor. „Von seiner Erziehung sollte ein Kind später sagen können“, wird David am Abend seinen Dinnergästen verkünden, „wenn ich das überlebt habe, kann ich alles überstehen.“ Trotzdem begreift der Fünfjährige letztlich doch, dass etwas anderes als das väterliche Erziehungsideal im Spiel ist, als sein Vater sich an diesem Tag zum ersten Mal sexuell an ihm vergeht.

Bis die feine Gesellschaft sich schließlich zum gemeinsamen Essen einfindet, hat der Leser die Welt der Reichen und Schönen aus jeder erdenklichen Perspektive betrachtet und begriffen: Schön ist hier nur der Schein. Die feingeschliffenen und bitterbösen Dialoge machen zweifellos Spaß – aber eben nur aus sicherer Entfernung.

Edward St. Aubyn kennt sich aus in der Welt, die er in Schöne Verhältnisse beschreibt – Patrick ist sein literarisches Alter Ego, Patricks Geschichte die Geschichte seiner Kindheit, väterlicher Missbrauch mit eingeschlossen. Da seine Familie zur britischen High Society gehört, sorgte diese Enthüllung dort für Schlagzeilen und immer gleiche Interviewfragen. St. Aubyn bedauert das private Bekenntnis trotzdem nicht: Es sei befreiend gewesen, durch die Fiktionalisierung zu objektivieren, was zuvor erdrückend subjektiv und lange Zeit gänzlich geheim und verborgen gewesen sei, verriet er kürzlich der Welt in einem Interview. Dennoch wünschte er sich, im Ausland weniger als Klatschobjekt und mehr als Schriftsteller wahrgenommen zu werden.

Verdient hätte er dies auf jeden Fall, denn Schöne Verhältnisse ist ein hervorragender Roman, und keineswegs wortreiches Wundenlecken vor aller Welt. „Kein Schmerz ist klein, wenn er wirklich wehtut, aber jeder Schmerz ist ein Witz, wenn er gehätschelt wird“, lässt St. Aubyn – hier in Ingo Herzkes Übersetzung – jemanden in seinem Roman sagen. Eine These, die der Schriftsteller selbst beherzigt: Seine Beobachtungen sind bissig, doch niemals kalt, seine Beschreibungen einfühlsam, aber nicht theatralisch, seine Sprache ist klar und präzise.

St. Aubyn bekennt sich zu seiner Stilversessenheit und dazu, seine Manuskripte immer und immer wieder zu überarbeiten. Ingo Herzke, der Never Mind ins Deutsche übersetzt hat, ist dieser Herausforderung gerecht geworden und hat stellenweise sogar Übertragungen gefunden, die das Original an Prägnanz nahezu noch übertreffen. Das letztgenannte Zitat gehört zu ihnen: Dem englischen „No pain is too small if it hurts, but any pain is too small if it’s cherished“ steht Herzkes Aphorismus in nichts nach. „Local pieties“ werden bei ihm „hauseigene Heucheleien“, und Eleanors populärphilosophische Beobachtung „I mean, if anything’s in the mind, it’s who you are” zu „Ich meine, wenn man überhaupt irgendwas im Kopf hat, dann doch, wer man ist“. Den Bonmotcharakter von David Melroses für den Leser zynische und für den Übersetzer knifflige Bemerkung „Vice is nice, but incest is best“ erhält Herzke, indem er die englischen Reime durch ein Spiel mit deutschen Vorsilben ersetzt: „Unzucht macht Freude, Inzucht noch mehr“ heißt es hier.

Auch St. Aubyns Paradoxien wie „tired ebullience“ („müde Überschwänglichkeit“) und Bilder wie „he poured himself out in a rich gurgling rush of compliments, like an overturned bottle of syrup“ („quoll ein blubbernder Strom von Komplimenten aus ihm hervor wie aus einer umgekippten Sirupflasche“) werden treffsicher übertragen. Das soll nicht heißen, dass sich nicht der gelegentliche Anglizismus findet: „‚Was starrst du denn so‘, schnappte Nicholas“ für „snapped Nicholas“. Das geflügelte Wort „Who breaks a butterfly upon a wheel“ ist im Englischen geläufig genug, dass man nicht unbedingt die literarische Quelle (Alexander Pope: Epistle to Dr Arbuthnot) korrekt zitieren muss, wie Ingo Herzke es tut („einen Schmetterling auf das Rad zu flechten“). Mit der wesentlich idiomatischeren Wendung „mit Kanonen auf Spatzen schießen“ – die zudem ebenfalls Gewalt gegenüber wehrlosen Tieren beinhaltet – hätte er sich zwar weiter vom Wortlaut des Originals entfernt, wäre dessen Wirkung aber wohl näher geblieben. Schade ist ebenfalls, dass die für Patrick typische Distanzierung von sich selbst als Reaktion auf die sadistischen Quälereien seines Vaters („Nobody should do that to anybody else“) im Deutschen nicht mehr so klar herauskommt („Niemand sollte einem so was antun“). Doch dies sind die Ausnahmen, die gelungenen Beispiele die Regel.

Gleiches gilt für gelegentliche Ausrutscher ins schriftsprachliche Präteritum anstelle des Perfekts oder in ein zu gehobenes Stilregister in eigentlich mündlichen Textabschnitten („Treppe zu seines Vaters Zimmer“ statt „Treppe zum Zimmer seines Vaters“) – sie stechen deshalb heraus, weil es Herzke ansonsten so gut gelingt, den richtigen Ton zu treffen und wie St. Aubyn die Figuren über ihre Sprache zu charakterisieren. Denn wie in einem Film wechselt in diesem Roman beständig die Erzählstimme, zeigt man uns das Geschehen aus einer immer neuen Sicht – und überlässt uns so das Urteil über das Geschehen. Mit der Perspektive wechselt die Sprache: Sie ist kindlich-trotzig bei Patrick, rational-desillusioniert bei David, abstrakt-philosophisch bei Victor, etwas dümmlich und sehr cool bei der jungen Bridget. Ingo Herzke vollzieht sie in seiner Übertragung sehr gekonnt nach – und macht so die deutsche Ausgabe zu einer ebenso unterhaltsamen und lohnenden Lektüre wie das englische Original.

Einen Vorteil haben die Leser der Originalausgabe allerdings: Sie können direkt weiterlesen, wie es Patrick und den Melroses seitdem ergangen ist. Never Mind ist in Großbritannien nämlich schon vor 15 Jahren erschienen, gefolgt von drei weiteren Melrose-Romanen, deren jüngster Band mit dem Titel Mother’s Milk im vergangenen Jahr für den renommiertesten englischen Literaturpreis, den Booker Prize, nominiert war. In Deutschland erscheint der zweite Teil, der im Original den Titel Bad News trägt und zwei Tage im Leben des nun selbst drogenabhängigen Patrick wiedergibt, im Herbst 2007 – hoffentlich in einer ebenso gelungenen Übersetzung.

Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke, Köln: Dumont 2007, 188 Seiten, €17,90

Edward St. Aubyn: Never Mind, London: William Heinemann 1992, 181 Seiten

Edward St. Aubyn wurde 1960 in der englischen Grafschaft Cornwall geboren, wo seine Familie beachtlichen Landbesitz hat. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft in Oxford wurde er ab 1992 selbst schriftstellerisch tätig und veröffentlichte mit Never Mind den ersten Teil der autobiographisch motivierten Trilogie um Patrick Melrose und die englische Upper Class. Der Folgeband Bad News erschien noch im selben Jahr, der dritte Teil unter dem Titel Some Hope 1994. 1998 und 2000 folgten die Romane On the Edge und A Clue to the Exit, bevor St. Aubyn 2005 mit Mother’s Milk zu den Melroses zurückkehrte. Mother’s Milk war 2006 für den renommierten Booker Prize nominiert.

Ingo Herzke wurde 1966 in Alfeld geboren. Nach einem Studium der Klassischen Philologie, Anglistik und Geschichte in Göttingen und Glasgow begann er ab 1998 in Hamburg als Literaturübersetzer zeitgenössischer britischer und amerikanischer Literatur zu arbeiten. Zu den von ihm übertragenen Autoren zählen u. a. John Griesemer, A. L. Kennedy, Paula Fox und Rick Moody. Im Jahr 2004 erhielt Herzke ein Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds für seine Arbeit an Abnehmender Mond von Joseph Coulson.