Buchcover Vom Verschweigen des Ungesagten – Ermittlungen in der Presse
Vera Elisabeth Gerling über die Rezensionen zu Ermittlungen von Juan José Saer
aus dem Spanischen übersetzt von Hanna Grzimek

Elf Jahre dauerte es, bis der Roman Ermittlungen von Juan José Saer – in Argentinien und Spanien 1994 unter dem Titel La Pesquisa publiziert – im Verlag DuMont in deutscher Sprache erscheinen konnte. Anfang der 90er Jahre hatte sich der Piper Verlag mit der Übersetzung von Die Gelegenheit (1992) und Der Vorfahre (1993) bereits daran versucht, den Autor hierzulande bekannt zu machen. Wenn nun der DuMont Verlag im Klappentext verlauten lässt, der Autor sei in Deutschland „bisher ein Unbekannter“, dann ignoriert er diese Tatsache zwar geflissentlich, liegt aber zugleich nicht falsch.

Der Argentinier Juan José Saer verbrachte Jahrzehnte im Pariser Exil, wo er im Jahr 2005 verstarb. Den thematischen Schwerpunkt seines belletristischen und essayistischen Werkes stellt die argentinische Militärdiktatur dar. Auch den Protagonisten von Ermittlungen, der bereits aus früheren Romanen des Autors bekannte und ebenfalls als Schriftsteller in Paris lebende Pichón Garay, begleitet die argentinische Vergangenheit: Sein Bruder und dessen Freundin verschwanden während der Diktatur und tauchten niemals wieder auf. Zwischen Pichón und seinem Freund Tomatis, der ihn damals informiert hatte, steht dieses traumatische und stets verdrängte Ereignis unausgesprochen im Raum. Wenn nun dieser Pichón – zurück in Buenos Aires, um jenes Haus zu verkaufen, aus dem einst sein Bruder verschwand – Tomatis (und die Leser des Buches) mit seiner blutrünstigen Kriminalerzählung fesselt, an deren Ende der Zweifel an nachweisbarer Täterschaft und Schuld steht, so ist dies bei Kenntnis der früheren Werke als eine Fortführung dieses Themas zu verstehen. Dabei wird das Verschweigen des Ungesagten hier in geschickter Weise durch die Anlage des Romans hervorgehoben: Erwähnung findet das Verschwinden des Bruders lediglich in ein paar wenigen Zeilen des Buches. Dahingegen erscheint die brutale Folterung der willkürlich ausgewählten alten Damen in Paris als eine Transposition jenes dunklen Kapitels der argentinischen Geschichte, die es Pichón und Tomatis ermöglicht, die Frage nach dem unbegreiflichen menschlichen Handeln auf einer anderen Ebene zu diskutieren. Der „Krimi“ dient hier als Oberfläche, die das verdrängte, tabuisierte Thema überdeckt (vgl. hierzu auch die Rezension in ReLü 2).

Nach diesen Vorüberlegungen soll nun der Frage nachgegangen werden, wie die Rezensenten der deutschsprachigen Ausgabe diesen Roman lesen und präsentieren. Die ernüchternden Ergebnisse der Durchsicht aller vom Verlag freundlicherweise zur Verfügung gestellten zweiundzwanzig Rezensionen wie auch Hörfunksendungen zum Thema müssen lauten:

Erstens: Der Roman gilt einzig als Kriminalroman oder als postmodernes Spiel mit diesem Genre und wird vor dem Hintergrund entsprechender Kriterien beurteilt.

Bisweilen wird der Roman schlichtweg reduziert auf reine, entspannende Lesefreude: „alles schön surreal, spannend, witzig und mit lustvoll sprudelnder Detailtreue erzählt“ (Mittelland Zeitung, 30.04.2005). In den meisten Rezensionen wird Saers Roman leichtfüßig Kriminalroman genannt und auch schon einmal im „Krimi-Kasten“ der Ostthüringer Zeitung (25.06.2005) präsentiert. In Christoph Vormwegs Beitrag zur Sendung „Büchermarkt. Aus dem literarischen Leben“ des Deutschlandfunks (10.07.2005) wird hingegen gleich zu Beginn betont, der Roman sei weit mehr als ein Krimi. Vielmehr hebt Vormweg den kritischen Umgang mit dem Genre hervor: „Saer unterläuft auch diesmal die Konventionen des Genres, in diesem Fall des Kriminalromans“ und er lobt den Roman als „gelungene, ja perfekte Persiflage auf den traditionellen Kriminalroman“. Gern wird der Roman auch als postmodern deklariert – er sei „eher ein Musterbeispiel dafür, wie viel Spannung, Witz, Dramatik und Erkenntnis ein postmodernes Schreiben entfachen kann, das sich bei allen literarischen Genres spielerisch bedient“ (Süddeutsche Zeitung, 14.06.2005). Sigrid Gaisreiter interpretiert den Roman gar als reines Spiel mit Texten und unterbindet somit jede Möglichkeit, einen Bezug zur Realität herzustellen: „bei diesem Spiel, das die Welt als Text behandelt“ (Kulturküche.de, 19.07.2005).

Wird nun der Roman allein vor der Folie idealer bzw. durchbrochener Genrevorstellungen gelesen, verwundert es nicht weiter, wenn Brigitte Werneburg in der taz (30.04.2005) meint, „dass die Geschichte dieses Serienmords eine leider etwas verkrampfte Konstruktion“ sei. Wenn somit die tabuisierte Geschichte Argentiniens gar nicht als Thema des Romans erkannt wird, überrascht die mithin unmotiviert wirkende, obszöne Darstellung der Bluttaten gewiss: „Irritierend ist dabei, mit welcher Akribie Saer den Tod der alten Damen schildert, die Folterungen und Vergewaltigungen“, so Werneburg.

In lediglich zwei der durchgesehenen Rezensionen findet sich ein Hinweis darauf, dass der Roman auch etwas mit Argentinien zu tun haben mag. Doch nur Knut Cordsen wird in seiner Sendung auf Bayern 2 Radio (03.05.2005) präziser: „Und so nutzt er die blutige Story nur, um äußerst gekonnt etwas über die argentinische Militärdiktatur zu erzählen.“

Zweitens: In Ermangelung weiterer Kenntnisse orientieren sich die Rezensenten gern am Klappentext.

Lediglich Christoph Vormweg kritisiert die Präsentation durch den Verlag und die damit verbundene Leserlenkung: „Nur der Klappentext-Verweigerer kann diese erste Seite voll und ganz genießen.“ Tatsächlich wird Ermittlungen im Klappentext allein unter dem Aspekt der Kriminalhandlung präsentiert – und so mögen die Rezensionen als Beleg dafür gelten, wie stark die Leserlenkung durch den Klappentext Wirkung zeigt. Neben der Kategorisierung als Kriminalroman legt der Verlag hier drei weitere Fährten und die Rezensenten folgen ihnen behände und ohne weitere Prüfung.

Da wäre zum einen der Name des Protagonisten, Pichón. Dankbar nehmen fünf der Rezensenten den Hinweis auf, es handele sich um „eine Hommage an den amerikanischen Autor Thomas Pynchon“ – Sigrid Gaisreiter wiederholt dies sogar wortwörtlich (Kulturküche.de, 19.07.2005). Auf die vielleicht wichtigere Bedeutung des sprechenden Namens ‚Pichón‘ (Täubchen) geht hingegen niemand ein (vgl. hierzu Rezension in ReLü 2).

Wenn auf dem Buchumschlag zu lesen ist: „Nach Jorge Luis Borges und Julio Cortázar – die Entdeckung des bedeutenden argentinischen Gegenwartsautors: Juan José Saer“, mag dies ja noch so verstanden werden, dass im deutschsprachigen Raum leider neben den beiden genannten Autoren kaum argentinische Literatur bekannt geworden ist. In so mancher Rezension taucht dies jedoch in der offenbar auch beabsichtigten Lesart auf, Saer zähle „zu den bedeutendsten argentinischen Autoren des 20. Jahrhunderts“ (Herbert Gebert, Nürnberger Zeitung, 05.08.2005). Mangelnde Recherche hinsichtlich der Publikationsgeschichte führt ebenfalls zu einer Überinterpretation des Klappentextes, in dem zu lesen ist: „Sein Werk ist in viele europäische Sprachen übersetzt worden – in Deutschland ist Juan José Saer bisher ein Unbekannter.“ In sieben der Rezensionen wird daraus fälschlicherweise die Angabe, es handele sich um seinen ersten ins Deutsche übersetzten Roman. So bedauert Knut Cordsen irrtümlich: „Von Juan José Saer ist bisher kein Buch ins Deutsche übersetzt worden“ (Bayern 2 Radio, 03.05.2005).

In der Sendung „Krimi des Monats“, die im Juni 2005 auf MDR ausgestrahlt wurde, gibt der interviewte Stephan Maelck all diese Informationen gleich gebündelt preis: „Es ist das erste überhaupt in Deutsch verlegte Buch dieses Autors, der als wichtigster argentinischer Autor neben Borges und Cortázar gilt, und schon diese Namen lassen erwarten, dass es sich um weitaus mehr als einen Krimi handelt“, und weiter: „Pichón heißt natürlich nicht zufällig so, der Name ist ein Verweis auf den amerikanischen Schriftsteller Thomas Pynchon, den Juan José Saer sehr verehrt“.

Drittens: Wenn auch die sprachliche Virtuosität des Buches oft gelobt wird, so findet doch die Übersetzerin kaum je Erwähnung.

Viele der Rezensenten betonen die sprachliche Virtuosität des argentinischen Autors, selbst wenn das Buch ansonsten, wie z. B. im Urteil von Brigitte Werneburg (taz, 30.04.2005), deutlich verrissen wird. Lobt sie doch den „trotz einer reich und raffiniert geführten Sprache großartig lakonische[n] Tonfall“. Herbert Gebert beschreibt Saers Sprache überraschend pompös und stilisiert ihn zum exotischen Lateinamerikaner: „Saers Roman wird vom großen Atem der Epik Lateinamerikas getragen: die üppige und zugleich gebändigte Vegetation langer Satzsysteme, rhythmisch gegliederte Sprachmassen, die Pracht exotischer Metaphern: Sprachkunst als letzte Bastion gegen eine universelle Sinnlosigkeit“ (Nürnberger Zeitung, 05.08.2005).

Lediglich zwei der zweiundzwanzig Rezensenten erwähnen überhaupt, wie sehr diese Sprachkunst in der deutschen Fassung der Übersetzerin Hanna Grzimek zu verdanken ist. Christoph Vormweg schreibt: „ein begnadeter Konstrukteur genau austarierter Schachtelsätze – ein Kompliment, das wir sofort an seine Übersetzerin Hanna Grzimek weitergeben“, und Konrad Holzer lobt „seinen ganz besonderen Stil […] Und Hanna Grzimek hat es bravourös übersetzt“ (Buchkultur Juli/August 2005).

Die vom Verlag erstellte äußere Präsentation des Buches, die natürlich in erster Linie die Verkaufszahlen voranbringen soll, verstellt offenbar auch zahlreichen Literaturkritikern den Blick auf die Komplexität des Textes, dessen eigentliches Potenzial zwischen den Zeilen steckt. Die Rezensionen verschweigen das Ungesagte des Romans und so wird die Chance vertan, diesen Roman zu verstehen als eine Problematisierung des Umgangs mit traumatischen geschichtlichen Ereignissen, und zwar nicht allein auf Argentinien bezogen, sondern durchaus auch auf die Geschichte der Deutschen. Denn der Roman bietet auch diesen Anknüpfungspunkt an, bleibt doch bis zuletzt unklar, ob der Ermittler Morvan Sohn eines Kämpfers der Résistance oder aber eines Gestapomitglieds ist. Dieser Bezug zum Eigenen wird in keiner der Rezensionen thematisiert. Möge doch der Roman weitere Klappentextverweigerer als Leserschaft finden.

Juan José Saer: Ermittlungen, aus dem Spanischen übersetzt von Hanna Grzimek. Köln: DuMont 2005. 175 Seiten

Juan José Saer: La Pesquisa. Buenos Aires/Barcelona 1994. 175 Seiten

Juan José Saer wurde am 28. Juni 1937 in der Provinz Santa Fe in Argentinien geboren. Er unterrichtete an der Universidad Nacional del Litoral Filmgeschichte und Kinoästhetik. Im Jahr 1968 siedelte er nach Paris um und unterrichtete an der Universität zu Rennes. Am 11. Juni 2005 starb Saer in Paris.
Der in seiner Heimat als herausragender Autor geltende Saer hat zahlreiche Erzählungen, Romane und Essays verfasst. 1986 erhielt er den renommierten spanischen Literaturpreis “Premio Nadal”, in Frankreich wurde er mit dem “Prix France Culture” ausgezeichnet.

Hanna Grzimek wurde 1973 in Heidelberg geboren, studierte Hispanistik, Lateinamerikanistik und Germanistik. Sie lebt und arbeitet als Übersetzerin in Berlin.