Buchcover Froh zu sein bedarf es Dummheit
Martina Gaspar über Antoine oder die Idiotie von Martin Page, aus dem Französischen übersetzt von Moshe Kahn

„In einer Welt, in der die öffentliche Meinung auf Antworten zu Meinungsumfragen eingeengt wird, die sich zwischen ja, nein und weiß nicht bewegen, wollte Antoine sein Kreuz in keines dieser Kästchen machen.“ Das ist sein großes Problem: Für einen 25-Jährigen, der Diplome in Biologie und Filmwissenschaften besitzt, Aramäisch beherrscht und seinen Lebensunterhalt gleichermaßen als Vertretungslehrer und Synchronsprecher für Giraffen verdient, gibt es anscheinend keinen Platz in dieser Welt. Der durch und durch gutmütige, sensible Antoine, der sich rührend um seinen kranken Vermieter kümmert, keine künstlich hergestellten Nahrungsmittel kauft, der ‚modernen Technik‘ wie z.B. dem Fernsehen den Kampf angesagt, ja sogar eine Liste von Konzernen erstellt hat, die in fragwürdige Machenschaften verwickelt sind, und keines ihrer Produkte kauft, leidet an seinem gewissenhaften Verstand wie an einer Krankheit: Er ist zu intelligent. Ständig sieht er sich in der Rolle des Beobachters, Kritikers, Analytikers. Nachdem sein Versuch scheitert, Alkoholiker und somit Teil der Gesellschaft zu werden, und er auch als Selbstmörder erfolglos ist, sieht Antoine nur noch einen Ausweg: Um vor den Übeln des menschlichen Lebens die Augen verschließen zu können, muss aus ihm ein Idiot werden. Da sein Arzt dem Wunsch, einen Teil seiner Großhirnrinde zu entfernen, nicht nachkommen will, muss Antoine auf ein herkömmliches Antidepressivum zurückgreifen. Die Wirkung setzt bald ein: Er kündigt seine Stellen, tauscht Bücher gegen einen Fernseher, spielt Monopoly statt Schach, um zu lernen, wie man sich als „blöder Kapitalist“ richtig verhält. Er geht ins Fitnessstudio und unterzieht sich seinem persönlichen Härtetest – Essen bei McDonald’s. Sein schneller Bankrott bringt ihn dazu, in einer Investmentfirma einen Job als Börsenmakler anzunehmen. Durch einen glücklichen Zufall wird Antoine Millionär und somit ein perfektes Mitglied der modernen Konsumgesellschaft. Er zieht in ein Penthouse, kauft sich einen Porsche und deckt sich mit teuren Designeranzügen ein. Antoine ist wunschlos glücklich, bis ihm im Tablettenrausch der Geist von Tom Jones erscheint und ihn auffordert, seinen neuen Lebensstil zu überdenken …

Mit seinem Debütroman Antoine oder die Idiotie hat Martin Page eine Satire auf die zeitgenössische Gesellschaft vorgelegt, die ihresgleichen sucht. Ein Individuum gibt seine Persönlichkeit auf, um mit dem Strom zu schwimmen, denn nur so scheint ihm ein glückliches Leben möglich. Seine Lebensweisheiten bezieht Antoine von großen Literaten wie Flaubert, aber auch von Hollywood-Schauspielern wie Kirk Douglas.

Hierin besteht eine der vielen Herausforderungen für den Übersetzer des Romans: Antoine und seine Mitmenschen zitieren unermüdlich. Meistens sind die Urheber der Originalzitate genannt oder diese zumindest als solche kenntlich gemacht. Allerdings werden in der Übersetzung die Quellen zum Teil nicht genauso explizit ausgewiesen wie im Original (z. B. „son travail de traduction de La Recherche du temps perdu en araméen“ – „seine Übersetzungsarbeit an der Suche nach der verlorenen Zeit ins Aramäische“) und können daher leicht überlesen werden. An anderen Stellen werden französische Titel zwar kenntlich gemacht, aber mal übersetzt, mal beibehalten: „Szenen aus ‚Drei Mann in einem Boot‘“; „Auszüge aus den ‚Pensées‘ von Pascal“. Diese Vorgehensweise ist möglicherweise so zu erklären, dass der Übersetzer beachten muss, ob und inwiefern französische Werke in Deutschland unter ihrem Originaltitel oder unter ihrem französischen Titel bekannt sind. Ebenso verhält es sich mit Eigennamen, z. B. wird der französische Name einer Kneipe übernommen, der Name von Antoines Selbstmordgruppe dagegen übersetzt.

Eine ähnliche Inkonsequenz findet sich bei der Übertragung des Lokalkolorits. Französisches und Deutsches werden vermischt: Das ANPE wird zum Arbeitsamt, wohingegen FNAC, eine französische Medienkette, ohne weitere Erklärung stehen bleibt. Eine Erläuterung wäre an dieser Stelle sicherlich sinnvoll gewesen. „Bonjour“ wird als Begrüßung beibehalten, „enchanté“ aber übersetzt. Die „clochards“ (Penner) heißen auch im Deutschen so, obwohl dieser Begriff hier noch keineswegs so geläufig ist wie das an anderer Stelle übertragene „Dossier“. Das „bistrot“ bleibt auch in der Übersetzung „Bistrot“, was eher gemütlich und anheimelnd klingt, anstatt das Bild einer schlichten Kneipe hervorzurufen. Aus dem in Deutschland eher unbekannten französischen Sänger Dany Brillant macht die Übersetzung Tom Jones, was für das Textverständnis deutscher Leser durchaus förderlich ist, aber zur Beibehaltung der oben genannten französischen Ausdrücke im Widerspruch steht. Für Antoines Glückspillen namens „Heurozac“, einer kreativen Wortkreuzung aus „heureux“ (auf Deutsch ‚glücklich‘) und „prozac“ (ein hauptsächlich in den USA und Großbritannien bekanntes Antidepressivum), wird dem deutschsprachigen Leser leider kein Äquivalent geboten.

Der Übersetzer Moshe Kahn kann an manchen Stellen den Wortwitz des Romans retten („Antoine habitait à Montreuil, à la lisière de Paris. Ce qui faisait dire à Aslee qu’il habitait à la rizière de Paris.“ – „Antoine wohnte in Montreuil, an der Peripherie von Paris, was Aslee dazu veranlaßte zu sagen, er wohne an der Periphrasie von Paris.“), doch sind die wechselnden Sprachebenen des Romans eher unzureichend wiedergegeben. Der trockene, hochsprachliche Ton des allwissenden Erzählers steht im ständigen Kontrast zur Lässigkeit in Antoines Gesprächen mit seinen Freunden und dem oberflächlichen Geplänkel der Börsenmakler. Die Sachlichkeit im Monolog der Leiterin der Selbstmordgruppe und in Antoines selbst verfasstem Manifest der Idiotie, das von Fremdwörtern durchzogen ist, wird adäquat übertragen. Das Problem besteht in der Umgangssprache: Abkürzungen werden ausformuliert („Psychologe“ für „psy“), worin sich das allgemeine Übersetzungsproblem zeigt, dass die deutsche Sprache weitaus weniger Abkürzungen kennt als das Französische und durch die Ausformulierungen ein Stück des lockeren Tons des Originals verlorengeht. Unvollständige Sätze könnte man dagegen durchaus übertragen („Y a pas pire.“ – „Es gibt nichts Schlimmeres.“ Passender wäre z. B. „Gibt nix Schlimmeres.“). Teilweise tauchen veraltete Begriffe auf („Eheanbahnungsinstitut“ statt dem üblicheren Begriff „Partnervermittlung“), die zahlreichen Schimpfworte kommen nicht immer ausreichend zur Geltung („la moindre putain d’idée“ – „nicht den geringsten Schimmer“). Der lockere Konversationston der Figuren versteift und vermittelt somit im Deutschen einen anderen Eindruck.

Natürlich ist zu bedenken, dass es wohl unmöglich ist, bei der Übertragung von Lokalkolorit eine kongruente Vorgehensweise zu finden, oder dass es nicht immer sinnvoll ist, einer einheitlichen Linie zu folgen. Die uneinheitliche Methodik bei Zitaten oder Begriffen, die Lokalkolorit betreffen, wird bei einem Kenner beider Sprachen durchaus Verwirrung stiften, einem allein des Deutschen mächtigen Leser aber nicht zwangsläufig auffallen.

Die wundersame Geschichte von Antoine, der sich in nicht mehr als sechs Wochen vom intelligenten Individuum zum einzig auf Geld und Erfolg ausgerichteten ‚Normalo‘ wandelt, besitzt allein genug Triebkraft, um zu begeistern. Wer Französisch beherrscht, sollte dennoch Comment je suis devenu stupide den Vorzug geben.

Martin Page: Antoine oder die Idiotie, aus dem Französischen übersetzt von Moshe Kahn. Berlin: Wagenbach 2004, 142 Seiten

Martin Page: Comment je suis devenu stupide. Paris: J’ai lu 2002, 128 Seiten

Martin Page wurde 1975 in Paris geboren, wo er heute noch lebt. Ohne sich je auf ein spezielles Fach festlegen zu können, studierte er u. a. Jura, Philosophie, Anthropologie und Linguistik. Für Antoine oder die Idiotie erhielt er 2004 den Euregio-Schüler-Literaturpreis. Der Roman wurde in 29 Sprachen übersetzt.

Moshe Kahn wurde 1942 in Deutschland geboren. In den Sechzigerjahren lebte und arbeitete er einige Zeit in Italien. Er übersetzt sowohl aus dem Englischen als auch aus dem Französischen, hauptsächlich jedoch aus dem Italienischen. Neben berühmten Schriftstellern wie Primo Levi, Pier Paolo Pasolini oder Dacia Maraini übersetzte er in letzter Zeit zahlreiche Romane des Sizilianers Andrea Camilleri.

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