Buchcover Ewig sind die Oliven
Christina Rohe über Die Sonne der Scorta von Laurent Gaudé, aus dem Französischen übersetzt von Angela Wagner

Die Sonne der Scorta, die deutsche Übersetzung von Laurent Gaudés Roman Le soleil des Scorta, der 2004 den Prix Goncourt erhielt, erzählt die Geschichte einer italienischen Großfamilie. Über fünf Generationen, von 1875 bis in die heutige Zeit, fast unberührt von den großen Umwälzungen und Kriegen dieser Jahre, leben die Scorta in Montepuccio, einem kleinen, abgeschiedenen Dorf in Apulien, durch die Sonne an dieses Fleckchen Erde gebunden: „Wenn die Sonne am Himmel regiert, dass die Steine zu klappern anfangen, ist nichts zu machen. Wir lieben diese Erde zu sehr. Sie gibt uns nichts, ist ärmer als wir, doch wenn die Sonne sie erhitzt, kann niemand von uns sie verlassen.“ Laurent Gaudé hat aus dieser fiktiven Familienchronik einen einzigartigen, sprachlich beeindruckenden Roman gemacht, der von Angela Wagner kongenial ins Deutsche übertragen wurde.

Die Linie der Scorta beginnt mit dem Straßenräuber Luciano Mascalzone, der nach fünfzehn Jahren Gefängnis nach Montepuccio zurückkehrt, um zu tun, wovon er all die Jahre geträumt hat: „Filomena Biscotti besitzen und sterben“. Aber es ist nicht Filomena Biscotti, die ihm zu Willen ist, sondern ihre Schwester Immacolata. Der Junge, den sie neun Monate später zur Welt bringt, Sohn eines „nichtsnutzigen Vaters, der zwei Stunden nach der Zeugung ermordet wurde, und einer alten Jungfer, die sich zum ersten Mal einem Mann hingab“, ist Rocco Scorta Mascalzone. Wie sein Vater Luciano plündert er, raubt, mordet und vergewaltigt – und gründet eine Familie. Mit den Jahren werden die Scorta zahlreicher und entkommen der Armut, aber das Leben jedes einzelnen von ihnen bleibt geprägt durch die Sonne des Südens, das Spiel des Schicksals mit dem Glück der Menschen und den Schwur, das im Laufe des Lebens erworbene Wissen an ein jüngeres Familienmitglied weiterzugeben, „um nicht nur wie die Tiere zu sein, die unter dieser lautlosen Sonne leben und vergehen“. Und auch der jüngste Spross der Familie, die zwanzigjährige Anna Manuzio, ist trotz ihres Nachnamens, ihrer Weltläufigkeit und ihrer akademischen Bildung eine Scorta: „Sie stammte von dieser Erde, sie besaß den Blick und den Stolz“. So überdauern die Menschen ewig, wie die Oliven, die „alle die gleiche Form, die gleiche Farbe haben, unter der gleichen Sonne reifen und alle gleich schmecken.“

Der renommierte Prix Goncourt also für eine schlichte Familienchronik, deren Anlage ein wenig an Gabriel García Márquez’ Hundert Jahre Einsamkeit erinnert? Mitnichten. Was aus Die Sonne der Scorta einen großen, originellen, unverwechselbaren Roman macht, ist seine Sprache. Gaudé fabuliert nicht, er konstatiert. Aus jedem seiner kurzen, knappen, schmucklosen Sätze spricht der bittere Ernst eines Lebens unter der glühenden Sonne des Südens, die gleichermaßen Tod und Leben symbolisiert, also das Schicksal schlechthin. Der Ton der Erzählung ist ebenso ungekünstelt wie lakonisch-resigniert, gerade auch in den Kapiteln, in denen die Erzählerstimme schweigt, um der alten Carmela Scorta Raum für einen Monolog zu geben. Das Bild, das dem Leser des Originals vor Augen tritt, ist klar, schlicht … und furchterregend schön.

Lässt sich all dies in die deutsche Fassung übersetzen? Angela Wagners Text antwortet auf diese Frage mit einem klaren Ja. Wagner beweist exzellentes Gespür für Gaudés Stil. Es gelingt ihr, die Sätze im Deutschen so kurz und knapp zu halten wie im Original – mit dieser Leistung widerlegt sie auch die Behauptung, eine deutschsprachige Übersetzung falle grundsätzlich länger aus als der fremdsprachige Text. Nebensätze haben Seltenheitswert und erlangen dadurch besonderes Gewicht; Relativsätze und Adverbialsätze sind plötzlich Goldminen für den Leser, der die Verknüpfungen im sensiblen Geflecht des Textes eher spürt als logisch nachvollzieht. Und wie das Sonnenlicht über Montepuccio liegt über dem Text das Lokalkolorit Süditaliens, das immer wieder in Gestalt italienischer Wörter und Satzbruchstücke im Text aufscheint. Gaudé hat dem Verständnis zuliebe an einigen Stellen erläuternde Fußnoten eingefügt, die Wagner in die deutsche Fassung übernommen hat. Alle anderen Kulturspezifika kommen so natürlich und diskret daher, dass der Leser sich der kuriosen Konstellation, die er in Händen hält – die von einem Franzosen erzählte und ins Deutsche übersetzte Geschichte, die in Italien spielt –, kaum bewusst wird.

Montepuccio wartet darauf, auch vom deutschsprachigen Leser entdeckt zu werden.

Laurent Gaudé: Die Sonne der Scorta, aus dem Französischen übersetzt von Angela Wagner. München: dtv 2005, 253 Seiten

Laurent Gaudé: Le soleil des Scorta. Arles: Actes Sud 2004, 247 Seiten

Laurent Gaudé, 1972 geboren, ist seit einigen Jahren ein Star der französischen Literaturszene. Bevor 2001 sein erster Roman Cris erschien, hatte er bereits einige Theaterstücke geschrieben und zur Aufführung gebracht. Schon sein zweiter Roman, La mort du roi Tsongor, wurde mehrfach ausgezeichnet; Le soleil de Scorta, sein dritter Roman, erhielt 2004 den Prix Goncourt und verhalf ihm in Frankreich endgültig zu landesweiter Bekanntheit. Sowohl seine Theaterstücke als auch seine Bücher haben sehr schnell internationalen Anklang gefunden und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

Angela Wagner hat Französisch und Geschichte studiert und kam über ein Aufbaustudium der Buchwissenschaft ins Verlagswesen. Seit 1999 ist sie für verschiedene Verlage als freiberufliche Übersetzerin und Lektorin tätig. Neben französischer Belletristik übersetzt sie auch Sachbücher für Kinder sowie Reiseliteratur und Bildbände.