Buchcover Ergreifend, ohne kitschig zu sein
Marlene Frucht über Die Perlentaucherin von Jeff Talarigo, aus dem Englischen übersetzt von Almuth Carstens

Was denkt man, wenn man eine Beschreibung wie „ergreifend“ im Klappentext liest, zusammen mit einem Titel wie Die Perlentaucherin? Die Vermutung liegt nahe, man habe es mit einem möglicherweise schönen, vielleicht aber auch etwas kitschigen Roman zu tun. Jeff Talarigos Debütroman jedoch ist wirklich ergreifend, kitschig aber ist er nicht. Das liegt zu einem großen Teil an Talarigos Sprache, die ganz einfach ist, präzise beschreibend statt ausschmückend und überschäumend. Außerdem hat der Autor für seinen Text eine strenge Gliederung gewählt: Jeder Erzählabschnitt wird von einem „Artefakt“ ausgelöst, irgendeinem Gegenstand aus der Lepraklinik, dem Hauptschauplatz der Handlung, und ist selten länger als wenige Seiten. Hinzu kommt, dass Talarigo die Lebensgeschichte seiner japanischen Hauptfigur in der dritten Person schildert, sich also gegen eine Ich-Erzählerin entschieden hat, die vielleicht stärker zur Identifikation einlüde. Auch bleibt die Hauptfigur namenlos, bis sie sich selbst bei ihrer Ankunft in der Klinik einen neuen Namen geben muss. Von da an nennt sie sich „Miss Fuji“.

Miss Fujis Geschichte ist in den späten 1940er Jahren angesiedelt. Die Neunzehnjährige hat ihren Traumberuf gefunden: Sie ist Perlentaucherin. Die Frauen, die diesen Beruf ausüben, sind anders als der Rest der Gesellschaft. Ihre Arbeit ist hart, sie verändert den Körper – die Perlentaucherinnen bekommen eine dickere Haut, sind meist eher stämmig und sprechen zu laut, weil das Tauchen den Ohren schadet. Mit der Zeit verwandeln lauter kleine Verletzungen, die sie sich an den scharfkantigen vulkanischen Felsen unter Wasser zuziehen, ihre Körper in ein „Narbenmuseum“. Nach dem Tauchen sind sie unterkühlt und werden manchmal von Krämpfen geschüttelt. Perlen finden die Taucherinnen nur selten, im Alltagsgeschäft holen sie vielmehr Tintenfische, Austern, Abalone, Hummer und Seegras aus der Tiefe herauf. Miss Fujis Familie, einfache Reisbauern, können nicht verstehen, warum die Tochter so laut spricht, warum sie nur wenige Stunden am Tag arbeitet und trotzdem zu erschöpft ist, um auf dem Feld zu helfen, wenn sie nach Hause kommt. Außerdem fürchtet die Mutter, dass Miss Fuji aufgrund ihrer kräftigen, robusten Figur keinen Mann finden wird. Doch ihr macht es nichts aus, dass sie mit ihrer Berufswahl zu einer Art Außenseiterin wird, denn für sie ist es die Erfüllung eines Traumes, als Perlentaucherin zu arbeiten.

Erst recht zur Außenseiterin wird sie jedoch, als sie mit neunzehn Jahren an Lepra erkrankt. Sie muss ihre Familie verlassen, darf nicht mehr tauchen und wird auf die Insel Nagashima gebracht, wo Leprakranke in Isolation leben. Auf Nagashima beginnt ihr zweites Leben unter einem neuen Namen, den sie sich aussuchen darf. Von nun an nennt sie sich Miss Fuji, nach dem Berg, den sie einmal mit ihrem Onkel bestiegen hat. Die nächsten Jahre verbringt sie auf dieser Insel und bewahrt sich auch in der kleinen Gesellschaft der Klinik und trotz der strengen Regeln und der Unterdrückung der Patienten auf beeindruckende Weise ihre Unabhängigkeit und Würde. Ihre Liebe zum Meer und zum Tauchen, die sie weiterhin begleitet, hilft ihr dabei, ihr neues Leben besser zu ertragen.

Jeff Talarigos Debütroman enthält viele geschichtliche wie auch medizinische Details über den Umgang mit Lepra im Japan der 1940er und 1950er Jahre. Die von ihm verwendeten Bilder sind originell und eng an den Kontext der Erzählung gebunden. Über einen Bewohner von Nagashima, der nicht von seiner Vergangenheit sprechen möchte, heißt es zum Beispiel: „Als hätte er Wasser auf den Salzhügel seiner Erinnerungen geträufelt, damit er sich Körnchen für Körnchen auflöst.“ Kein einziges Wort ist fehl am Platz. Diese Schlichtheit der Sprache macht die Poesie der Erzählung aus und bewahrt sie gleichzeitig davor, ins Kitschige abzugleiten.

Der Übersetzerin Almuth Carstens ist es gelungen, diese Balance in der Übersetzung beizubehalten. Auch im deutschen Text gibt es kein überflüssiges Wort. Ungewöhnliche Bilder sind nicht geglättet und besitzen die gleiche Kraft, Landschaften vor dem inneren Auge des Lesers entstehen zu lassen. Auch Talarigos Eigenart, Gegenstände und Natur zu personifizieren, bleibt erhalten: „Die Sonne hat sich am östlichen Rand der Insel über den Hügel geschleppt […]. An mehreren frühen Morgen dieser Woche haben sich die Felsen entblößt, dann gesonnt und es ist ein Pfad zu einer winzigen Insel gegenüber von Nagashima entstanden.“ Neben den Anforderungen sprachlicher Art erfordert die Arbeit an dieser Übersetzung aufgrund der erwähnten historischen und medizinischen Details sowie der Beschreibung der japanischen Flora und Fauna auch eine sorgfältige Recherche. Die Übersetzerin hat eine ausgesprochen sensible, gut recherchierte und durch und durch stimmige Übersetzung angefertigt, die ebenso lesenswert ist wie das englischsprachige Original.

Jeff Talarigo: Die Perlentaucherin, aus dem Englischen übersetzt von Almuth Carstens. München: Luchterhand 2005, 236 Seiten

Jeff Talarigo: The Pearl Diver. New York: Anchor Books 2005, 237 Seiten

Jeff Talarigo wurde in Pennsylvania geboren und arbeitete nach seinem Studium als Journalist. Anfang der 90er lebte er ein halbes Jahr in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Gazastreifen; seine Kurzgeschichten über diese Erfahrung sind in verschiedenen literarischen Magazinen veröffentlicht. 1993 zog er nach Japan. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Kokura, gibt Englischunterricht und schreibt an seinem zweiten Roman.

Almuth Carstens hat unter anderem Soziologie studiert, lebt in Berlin und ist die Übersetzerin von Kathy Acker, Jane Rogers und Alice Sebold.