Buchcover Morde hüben wie drüben
Vera Elisabeth Gerling über Ermittlungen von Juan José Saer, aus dem Spanischen übersetzt von Hanna Grzimek

Als Kriminalroman nimmt dieses Buch seinen Anfang und zieht uns in der Gier nach Aufklärung in seinen Bann: Wenn bereits siebenundzwanzig alte Damen auf grausamste Art ermordet wurden, dann muss die Handlung darauf zielen, exakte Aufklärung zu leisten, den Mörder eindeutig zu ermitteln und ihn für seine Taten zur Rechenschaft zu ziehen. So wiegt man sich in der Sicherheit, einem vertrauten Genreschema zu folgen. Doch plötzlich schieben sich Ort und Zeit einer ganz anderen Handlung in die Geschichte hinein, wird die vordergründig zentrale Handlung zur erzählten Binnenhandlung, weiß man nicht mehr, welche Ebene die eigentlich zentrale ist.

Pichón Garay, eine schon aus anderen Romanen des argentinischen Autors Juan José Saer bekannte Figur, ist von Paris aus in seine frühere Heimat Buenos Aires gereist. Hier trifft er auf seinen alten Freund Tomatis, mit dem gemeinsam er sich für ein anonymes Romanmanuskript interessiert, in dem der Trojanische Krieg aus zweierlei unvereinbaren Blickwinkeln geschildert wird. Pichón selbst ist es, der in Buenos Aires die Geschichte vom Serienmörder in Paris erzählt. Unterschwellig begleitet die beiden Freunde zudem noch ein weiteres unaufgeklärtes Ereignis: In den achtziger Jahren, als Pichón bereits in Paris lebte, verschwanden – wie so viele andere während der Militärdiktatur in Argentinien – sein Zwillingsbruder und dessen Freundin spurlos. In dieser Vielzahl zu ergründender Geheimnisse schwindet die Orientierung dahin – und so soll es auch sein. Nicht Aufklärung ist das Ziel, sondern die Beunruhigung durch das Ungewisse, die Relativierung von Wahrnehmung und Darstellung, die im Alltäglichen verborgene hüben wie drüben auftretende menschliche Brutalität. Gerade das Spiel mit dem Genre des Kriminalromans vermag aufzuzeigen, dass die Suche nach Aufklärung nur eine vieler möglicher Umgangsformen mit der Wahrheit darstellt.

„Dort drüben hingegen wird es im Dezember früh Nacht“, beginnt der Roman in der Übersetzung von Hanna Grzimek. „Drüben“ ist in diesem Fall Europa, und der Erzähler befindet sich an einem Ort, wo gemeinhin nicht der Mittelpunkt des Weltinteresses liegt: in Lateinamerika. Nur im Detail zeigt sich, wie sehr die Herkunft des Erzählers präsent ist: Die Größe eines Papierschnipsels, der in einer Pariser Wohnung gefunden wird, bemisst sich zum Beispiel mit einem argentinischen Alltagsgegenstand: „nicht größer als eine Zwanzig-Centavo-Münze“. So werden Zentrum und Peripherie auf den Kopf gestellt.

Ebenso wie das Original des argentinischen Autors verleiht die Satzbildung auch aus der Feder der Übersetzerin Hanna Grzimek dem Roman seinen besonderen Duktus. Die langen Satzgefüge dieses hochliterarischen Textes erweisen sich zugleich mündlich geprägt und lassen so keinen Zweifel daran, dass hier ein Erzähler auftritt, der sich persönlich nicht allein mit Vermutungen und Zweifeln, sondern im Verborgenen auch mit seiner eigenen Vorgeschichte einbringt: „So robust, rein nach außen gekehrt und in der vollen Blüte ihrer Jahre und, wie ich schon sagte, der eine für den anderen gänzlich undurchschaubar, was tägliche Gewohnheiten anging, waren sie doch taub und blind gegenüber dem undurchdringbaren Grund, in den die zerbrechlichen Tage der Zivilisation ihre Wurzeln versenken.“ Grzimek stellt die Sätze mutig und gelungen um, wie es die deutsche Sprache erfordert, und zwar ohne Scheu vor zahlreichen Kommata, die so in der deutschen Fassung auch optisch die Textstruktur unterstreichen.

Da mit diesem Buch nicht nur ein Autor, sondern auch eine Übersetzerin zu entdecken ist, erfreut es umso mehr, dass im Klappentext beide vorgestellt werden. Kurios hingegen ist, wie sich der Verlag zwar einerseits hartnäckig gegen die Regeln der neuen Rechtschreibung sträubt, diese traditionelle Sprachpflege sich jedoch in mancherlei Hinsicht nicht im Lektorat der Übersetzung spiegelt, finden sich doch anglizistische Anleihen wie „etwas erinnern“ und „eine Dusche nehmen“ oder die leider im aktuellen Sprachgebrauch kaum mehr wahrgenommene Ersetzung von „anscheinend“ durch „scheinbar“ im Roman.

Der Übersetzerin wurde die Möglichkeit eingeräumt, dem Text hier und dort eine Fußnote beizufügen, um z. B. auf den sprechenden Namen des Erzählers Pichón aufmerksam zu machen: Er bedeutet „Täubchen“ oder auch im übertragenen Sinne „Grünschnabel“. Hier wird kein Hehl daraus gemacht, dass es sich um einen übersetzten Text handelt. In die Irre führt jedoch die Fußnote zu seinem Bruder „El Gato“, denn die Information „Vermisst um 1980, während der Militärdiktatur“ lässt vermuten, es handele sich um eine historische Persönlichkeit. Dabei wäre es viel interessanter gewesen, auch hier auf die Namensgebung hinzuweisen, denn der Spitzname dieses fiktiven Bruders lautet „gato“, also „Kater“, und zeigt im Zusammenspiel mit dem Namen „Pichón“ die Gegensätzlichkeit der Geschwister auf.

Der Roman Ermittlungen erschien bereits im Jahr 1994 in Argentinien und brauchte somit länger als zehn Jahre, um dem deutschsprachigen Publikum präsentiert zu werden. In Frankreich, der Exilheimat Juan José Saers, der am 11. Juni dieses Jahres in Paris verstarb, wurde er seit den achtziger Jahren regelmäßig übersetzt und sogar neu aufgelegt. Selbst essayistische Texte finden sich unter den sechzehn französischen Übersetzungen. In deutscher Sprache gilt es diesen Autor erst noch zu entdecken. Bislang erschienen von ihm lediglich im Piper Verlag die beiden Romane Die Gelegenheit (1992) und Der Vorfahre (1993). Wenn auch die argentinische Literatur weitaus mehr zu bieten hat als nach Jorge Luis Borges und Julio Cortázar nun Juan José Saer, wie uns der Werbetext auf dem Buchumschlag Glauben machen will, so ist doch die Neu-Entdeckung dieses Autors höchst lobenswert. Zu begrüßen wäre es, wenn den deutschsprachigen Lesern mehr solcher transatlantischer Blickwechsel geboten würden.

Juan José Saer: Ermittlungen, aus dem Spanischen übersetzt von Hanna Grzimek. Köln: DuMont 2005. 175 Seiten

Juan José Saer: La Pesquisa. Buenos Aires/Barcelona 1994. 175 Seiten

Juan José Saer wurde am 28. Juni 1937 in der Provinz Santa Fe in Argentinien geboren. Er unterrichtete an der Universidad Nacional del Litoral Filmgeschichte und Kinoästhetik. Im Jahr 1968 siedelte er nach Paris um und unterrichtete an der Universität zu Rennes. Am 11. Juni 2005 starb Saer in Paris.
Der in seiner Heimat als herausragender Autor geltende Saer hat zahlreiche Erzählungen, Romane und Essays verfasst. 1986 erhielt er den renommierten spanischen Literaturpreis „Premio Nadal“, in Frankreich wurde er mit dem „Prix France Culture“ ausgezeichnet.

Hanna Grzimek wurde 1973 in Heidelberg geboren, studierte Hispanistik, Lateinamerikanistik und Germanistik. Sie lebt und arbeitet als Übersetzerin in Berlin.