Buchcover „Heißt zähmen vertraut machen?“ – Der Kleine Prinz neu übersetzt
Marion Herbert über ihre Annäherung an das Verb apprivoiser bei Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz. Ein Werkstattbericht

Als ich vom Anaconda Verlag den Auftrag bekam, Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz noch einmal neu ins Deutsche zu übertragen, freute ich mich sehr, ein so berühmtes Buch übersetzen zu dürfen – und merkte bald, dass mir gerade die Bekanntheit des Textes einige Probleme bereitete. Ich wollte mich möglichst unvoreingenommen auf die Geschichte und die Sprache des Erzählers einlassen, hatte beim Übersetzen aber immer wieder das Gefühl, mir würde eine fremde Stimme die Zitate ins Ohr flüstern, durch die Der kleine Prinz in Deutschland längst bekannt ist: Formulierungen aus der ersten Übersetzung von Grete und Josef Leitgeb (1950), die fast jeder schon auf Postkarten gelesen, aus Hörspielen aufgeschnappt, im Schulunterricht diskutiert hat.

Eine der besonders bekannten Textstellen ist das 21. Kapitel, die Begegnung des kleinen Prinzen mit dem Fuchs, der ihn lehrt, was Freundschaft ist, und ihm dadurch die zentrale Botschaft „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ vermittelt. Die erste Phase jeder Freundschaft ist das Kennenlernen, im Französischen ausgedrückt durch das Verb apprivoiser, das im Text insgesamt siebzehn Mal vorkommt. Im Petit Robert wird es erklärt mit „1. Rendre moins craintif ou moins dangereux (un animal farouche, sauvage), rendre familier, domestique“ (wörtlich übersetzt: ein scheues, wildes Tier weniger ängstlich oder gefährlich machen, vertraut, zahm machen) und „2. Rendre plus docile, plus sociable“ (folgsamer, umgänglicher machen) und kann sich sowohl auf Tiere als auch auf Menschen beziehen. Laut zweisprachigem PONS-Großwörterbuch bedeutet es zum einen „zähmen“, zum anderen aber auch „jdn. umgänglicher machen“, und hat noch die dritte Bedeutung „etw. bezwingen, besiegen“.

Der kleine Prinz und der Fuchs treffen sich also und grüßen einander, dann bittet der kleine Prinz den Fuchs, mit ihm zu spielen. Doch der entgegnet: „Je ne puis pas jouer avec toi (…) Je ne suis pas apprivoisé.“ In der Fassung des Ehepaars Leitgeb lautet die Übersetzung entsprechend der ersten Bedeutung von apprivoiser: „Ich kann nicht mit dir spielen (…) Ich bin noch nicht gezähmt!“ Später fordert der Fuchs den kleinen Prinzen direkt auf: „… zähme mich!“ Das deutsche Verb zähmen hat jedoch ein viel engeres Bedeutungsspektrum als apprivoiser, der Duden erklärt es als „(ein Tier) zahm machen, ihm seine Wildheit nehmen, jdn./etw. bezähmen“, der Aspekt des Vertrautmachens fehlt.

Was würde der Fuchs wohl auf Deutsch sagen? Ich versuchte, mich in ihn hineinzuversetzen. Ist es nachvollziehbar, selbst in einer Märchenwelt, dass ein Tier einen Menschen (bzw. ein Wesen wie den kleinen Prinzen) auffordert, ihm seine Wildheit zu nehmen und damit Macht auszuüben? Liegt hier nicht die viel positivere weitere Bedeutung von apprivoiser deutlich näher, bei der es darum geht, Fremdheit zu überwinden und Vertrauen aufzubauen? Sollte der Fuchs da nicht eher einwenden: „Ich kann nicht mit dir spielen (…) Ich bin nicht mit dir vertraut“, oder gleich: „Ich kenne dich nicht“? Vor allem, da er dem kleinen Prinzen im Folgenden erklärt, was es bedeutet, eine Beziehung zu etwas oder jemandem zu haben.

Als Übersetzerin muss ich mich entscheiden, denn im Deutschen fehlt mir ein Verb, das die beiden Aspekte zähmen und vertraut machen umfasst und zu Tieren und Menschen gleichermaßen passt. Einerseits ist der Fuchs nun mal ein wildes Tier, das gezähmt werden muss, bevor er mit dem kleinen Prinzen spielen kann. Zudem darf man auch nicht außer Acht lassen, dass die Leitgeb-Übersetzung bereits ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Ein deutscher Leser erwartet in jenem Kapitel bereits das Wort zähmen und gibt ihm aus dem Kontext eine positivere Bedeutung, als die Duden-Definition eigentlich nahelegt. Andererseits passt zähmen an vielen anderen Textstellen, an denen im Französischen auch apprivoiser steht, überhaupt nicht, zum Beispiel, als der Fuchs in der Version des Ehepaars Leitgeb etwas später sagt: „Man kennt nur die Dinge, die man zähmt.“

Glücklicherweise bietet mir hier der Originaltext selbst eine Lösung an, denn auch der kleine Prinz muss sich auf sprachlicher Ebene erst an das Wort apprivoiser annähern und sich seine Bedeutung erklären lassen. Er fragt den Fuchs dreimal: „Qu’est-ce que signifie ‚apprivoiser‘?“ Schließlich antwortet der Fuchs: „Ça signifie ‚créer des liens…‘“ – wörtlich übersetzt: Es bedeutet ‚Verbindungen schaffen‘. Hier habe ich nun die Chance, das Wort innerhalb der Erzählung zu erläutern, und habe mich also dafür entschieden, apprivoiser mit zähmen zu übersetzen (jedoch nur an elf Stellen, die sich direkt auf das Wort oder den Fuchs als Tier beziehen) und es, ebenso wie das Ehepaar Leitgeb, mit vertraut machen zu definieren, um auch den Aspekt der emotionalen Annäherung zu betonen. Der Fuchs erklärt also: „Es bedeutet ‚sich vertraut machen‘.“ Die Formulierung vertraut machen habe ich außerdem überall dort eingesetzt, wo apprivoiser eher im übertragenen Sinn gebraucht ist, zum Beispiel, als der Erzähler im 25. Kapitel sagt: „Man läuft Gefahr, ein bisschen zu weinen, wenn man sich mit jemandem vertraut gemacht hat …“ (Im Original: „On risque de pleurer un peu si l’on s’est laissé apprivoiser…“) Bei Leitgeb steht an dieser Stelle: „Man läuft Gefahr, ein bißchen zu weinen, wenn man sich hat zähmen lassen …“, wodurch wieder besonders deutlich wird, wie leicht das Verb im Sinne eines bemächtigenden Verhaltens missverstanden werden kann.

Ich als Übersetzerin musste mich jedenfalls auch erst mit dem Verb apprivoiser vertraut machen und wieder einmal feststellen, dass Sprachen eben nicht deckungsgleich sind. Wortbedeutungen überlappen sich und unterscheiden sich doch wiederum durch Nuancen, die eine große Rolle spielen können. Wortwiederholungen im Originaltext lassen sich nicht schematisch nachahmen, und gerade Neuübersetzungen von Werken, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind, stehen in komplexen Zusammenhängen. Nur wenn man all dies in Betracht zieht, kann eine Übersetzung sich dem Original annähern. Es ist, wie der Fuchs zum kleinen Prinzen sagt: „Die Sprache ist ein Quell von Missverständnissen. Aber jeden Tag kannst du dich ein bisschen näher zu mir setzen …“

Saint-Exupéry, Antoine de: Der Kleine Prinz, aus dem Französischen übersetzt von Marion Herbert, Köln: Anaconda 2015, 4,95 €

Marion Herbert studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und übersetzt aus dem Englischen und Französischen. Mehr Informationen unter http://marionherbert.jimdo.com/