Buchcover In einem Land zwischen Schnee und Disteln
Friederike Heimann über Gedichte von Lea Goldberg, aus dem Hebräischen übersetzt von Gundula Schiffer

Lea Goldberg (1911–1970) ist in Deutschland bislang immer noch eine weitgehend Unbekannte, obwohl die hebräische Dichterin in Israel schon längst geradezu Kultstatus besitzt. In Heft 4/August 2012 der Literaturzeitschrift Akzente sind nun fünfzehn ihrer Gedichte in einer neuen Übersetzung von Gundula Schiffer veröffentlicht worden. In einem anschließenden Kommentar stellt die Übersetzerin dem deutschen Publikum die Dichterin vor und gibt zugleich Auskunft über den nicht immer einfachen Prozess der Übersetzungsarbeit vom Hebräischen ins Deutsche.

Lea Goldberg, die 1911 in Königsberg/Preußen geboren wurde, verbrachte den überwiegenden Teil ihrer Kindheit und Jugend in Kaunas/Litauen. Von 1930–1933 absolvierte sie ein Studium in Berlin und Bonn, das sie noch 1933 mit einer Promotion abschloss. Bereits 1935 emigrierte sie von Litauen in das damalige Palästina. Den Erfahrungen dieser Reise, die ihren endgültigen Abschied von Europa darstellte, hat sie in ihrem Roman Briefe von einer imaginären Reise literarischen Ausdruck verliehen, dem einzigen Buch von ihr, das bislang vollständig ins Deutsche übersetzt wurde.

„Schon als Kind machte sie Verse“, schreibt ihr Dichterkollege und langjähriger Freund Tuvia Rübner. Und es war von Anfang an das Hebräische, in dem sie ihre poetischen Versuche unternahm. Darüber hinaus beherrschte sie viele Sprachen und übertrug zahlreiche Werke der Weltliteratur ins Hebräische, wie Texte von Petrarca und Dante Alighieri, aber auch von Tolstoi, Tschechow, Baudelaire oder Rainer Maria Rilke. Diese geistigen Einflüsse der literarischen Größen Europas wirkten sich auch auf ihre Gedichte aus. Goldberg habe – wie Gundula Schiffer erklärt – Formen und Themen der europäischen Dichtungstraditionen in die hebräische Literatur „eingelassen“ und diese als eine der ersten „universal“ gemacht. Damit hat sie – wie wiederum Karin Lorenz-Lindemann bemerkt – Akzente gesetzt auch für kommende Generationen in Israel, wo seit den späten siebziger Jahren „eine nachhaltig einsetzende Wiederentdeckung des Diaspora-Erbes“ festzustellen sei.

Doch ist Lea Goldberg auch eine Dichterin, in der sich zugleich die Erfahrungen jener Einwanderer- und Gründergeneration des Landes Israel konzentrieren, die vor den Nazis fliehen musste und dann maßgeblich am Aufbau des Landes beteiligt war. Dies bedeutete oftmals ein Leben, das von dem Zwiespalt zwischen europäischer Herkunft, verlorener Muttersprache und einem sich entwickelnden, modernen jüdischen Staat mit seiner Neubelebung des Hebräischen geprägt war. So heißt es in dem Gedicht Tel Aviv 1935, das Goldberg 1964 verfasst hat, nach der Übersetzung von Gundula Schiffer: „Und auf den Straßen die Säcke der Reisenden/ und die Sprache fremden Lands“. In dem Gedicht Über mich selbst von 1962 wiederum lesen wir: „Ganz einfach:/ In dem einen Land lag Schnee/ und in dem anderen standen Disteln/ und im Fenster des Flugzeugs – ein Stern/ in der Nacht/ über vielen Ländern.“

Es war eben alles andere als ganz einfach, wie die Metaphern „Schnee“ und „Disteln“ mit ihren Konnotationen von Kälte einerseits und Stacheligkeit und Kargheit andererseits verdeutlichen. Der „Stern“ aber als Zeichen für Verfolgung und Hoffnung zugleich, sichtbar beim Flug durch die Nacht, stand „über vielen Ländern“. Allein in diesen beiden Gedichten schon wird auf die Situation einer Vielsprachigkeit und Zerrissenheit angespielt, die symptomatisch sowohl für Lea Goldberg als auch für viele ihrer Generation und damit überhaupt für das Israel der Gründerjahre sein sollte. So war Lea Goldberg eine israelische und zugleich eine universale Dichterin von Weltrang, deren Dichtung – so Schiffer – stets auch „Weltpoesie“ war.

Angesichts dieser Bedeutung ihres Werks mutet es erstaunlich an, dass Goldbergs Dichtungen bislang kaum auf Deutsch vorhanden sind. Zwar hatte Ende der vierziger Jahre der mit ihr befreundete Dichter Ludwig Strauß einige Gedichte ins Deutsche übertragen, und es folgten später einige weitere Übersetzungen von dem ebenfalls mit ihr befreundeten Dichter Tuvia Rübner, doch blieb eine wirkliche Kenntnisnahme Goldbergs in Deutschland bislang aus. Mit den neuen Übersetzungen Gundula Schiffers, die uns jetzt vorliegen, bleibt daher zu hoffen, dass diesbezüglich nun ein Wandel einsetzt.

Die unterschiedlichen Übersetzer prägen mit ihrem Stil und ihrer Interpretation zugleich auch die Texte, die ja immer eine bestimmte Lesart mittransportieren. Ein Vergleich zweier Übersetzungen von einem Sonett Goldbergs aus dem Jahr 1945, das im Original Oren heißt, zeigt, wie unterschiedlich die jeweiligen Versionen sein können. So hat Tuvia Rübner das Sonett Föhre tituliert, während es von Gundula Schiffer Kiefer genannt worden ist. Allein diese Varianten in der Titelgebung deuten bereits das Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten an. Die letzte Strophe nun ist von Rübner in die Worte gefasst worden: „Zweimalig wurde ich mit euch gepflanzt/ und mit euch, Föhren, wuchs ich auf/ und meine Wurzeln treiben hier und dort.“ Bei Gundula Schiffer hingegen ist zu lesen: „Mit euch gepflanzt heißt doppelt leben,/ mit euch, ihr Kiefern, wuchs ich auf gesandt/ zu wurzeln in zweierlei Land.“ Das hört sich einerseits ähnlich an und könnte doch schon fast ein anderes Gedicht sein.

In der Transliteration des Originals wiederum lauten die letzten zwei Verse: „‘itchém ‘aní tsamáchti, ‘oraním,/ we-shorashái bi-shnéi nofím shoním“. Hier ist ein klares Klangschema mit End- und Binnenreim und dem klassischen Metrum fünfhebiger Jamben erkennbar. Diese formvollendeten Verse des hebräischen Sonetts lassen sich nicht einfach ins Deutsche übertragen, wie beide Übersetzungen deutlich machen. Während Tuvia Rübner dabei weitgehend das metrische Versschema aufrechtzuerhalten sucht, verzichtet er ganz auf den Reim. Diesem aber nähert sich Schiffer im Endreim der letzten zwei Verse an, die wörtlich übersetzt ungefähr heißen:„mit euch-ich-ich bin aufgewachsen, Kiefern/ und meine Wurzeln-in-zwei Landschaften verschiedene“. In der Verdichtung ganzer Satzstrukturen in einem Wort, wobei teilweise das Verb sogar völlig fehlt, werden so Zusammenhänge ausgedrückt, die im Deutschen nicht in dieser Komprimierung zu fassen sind. Rübner nun betont das lautmalerische „nofím shoním“ mit seinem „hier“ und „dort“, das dem hebräischen Gleichklang jedoch eine deutsche Dissonanz entgegensetzt und einhergeht mit einer Vernachlässigung der ursprünglichen Bedeutung. Gundula Schiffer trägt demgegenüber den „Landschaften verschiedene“ in ihrer Übersetzung mehr Rechnung. Anders als bei Rübner wird von ihr daher die Verwurzelung in beidem deutlicher betont, was eine größere inhaltliche Nähe zum Original schafft. Aus diesem selbst geht das Gewachsensein der Wurzeln aus dem Entzweiten, Verschiedenen noch besonders hervor, womit zugleich auf eine Zerrissenheit angespielt wird, die vor allem in Gundula Schiffers Übersetzung auch weiterhin nachvollziehbar bleibt.

Die Mühe, die sie sich mit ihren Übersetzungen gemacht hat und die sie in ihrem Kommentar beschreibt als das Durchlaufen mehrfacher, immer wieder sich ändernder Transformationen bis zur abschließenden Fassung, hat sich schließlich gelohnt. Im Resultat, das sie anbietet, werden Lea Goldbergs Gedichte auf eine eher gebrochene, ungeglättete Weise vorgestellt, die den Blick auf das Original und dessen Fremde nicht verstellen, sondern im Deutschen noch durchscheinen lassen. Die Rezeption der oft klassisch formvollendeten Gedichte Goldbergs wird damit auf eine neue, eher moderne Weise möglich, die uns das Werk dieser wichtigen hebräischen Dichterin möglicherweise auch im deutschen Sprachraum besser zugänglich macht, als es bislang der Fall gewesen ist.

Insgesamt werden von Gundula Schiffer in dieser Sammlung Gedichte aus drei unterschiedlichen Schaffensphasen Goldbergs vorgestellt, die sie unterteilt in: Frühwerk (30er Jahre), Blütezeit (40er, 50er Jahre) und Spätwerk (60er, 70er Jahre). Die Hauptzahl der Übersetzungen stammen aus der mittleren Periode, der so genannten „Blütezeit“, wobei es sich thematisch vor allem um Liebesgedichte handelt. Ein Schwerpunkt, der – so Gundula Schiffer – durchaus dem Gesamtwerk Goldbergs entspricht, für das gerade die Liebesgedichte in ihrer dialogischen Ausrichtung auf ein Du zentral seien.

Immer wieder geht es aber auch um das, was im Unsagbaren aufscheint. Angesichts der großen jüdischen Trauer heißt es in einem Gedicht von 1940 nach Gundula Schiffers Übersetzung: „Schwer liegt auf unsern Lidern die Welt./ Unser Kopf gesenkt. Unser Weinen verstummt./ Versiegelt das Licht an den Enden des Meers./ Der Gesang ist aus.“ Ein grundsätzliches Verstummen wird hier benannt, das mit dieser Trauer einhergeht, die schwer, als eine ganze Welt, auf den Lidern liegt. Und doch „klopft das Herz“ wie in dem Gedicht Nacht von 1947: „tief,/ tief im Tau,/ klopft mein Herz“.

Jede Dichtung ist durchdrungen von dem großen Schweigen, vor dem sie sich abhebt und das in ihr mitschwingt. Und es ist eben dies, was jede gelungene Übersetzung zu leisten hat, dieses Ungesagte, diese „Art des Meinens“ – wie Walter Benjamin das einmal in seinem Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers ausgedrückt hat – „bis ins Einzelne hinein“ in der „eigenen Sprache sich an[zu]bilden“ und in der Übertragung „durchscheinen“ zu lassen. In Goldbergs Sonett Die Liebe der Teresa di Mon (1945) hören wir mit Gundula Schiffers Worten: „Vor meinem wie vor deinem Fenster/ singt im Finstern dieselbe Nachtigall,/ und da dein Herz im Traum erklingt,/ erwache und lausche ihr auch ich./“

Wir wiederum lauschen Goldbergs Gedichten in diesen Übersetzungen Gundula Schiffers, die das, was sich nicht mit Worten sagen lässt, feinfühlig mittransportieren. Jede Übersetzung kann in dieser Weise auch das Original um weitere Töne und Farben bereichern. Und Gundula Schiffer hat uns die Gedichte dieser großen Dichterin hebräischer Sprache auf eine für das heutige Publikum zeitgemäße und doch poetische Weise nahegebracht, die nicht anders denn als eine Bereicherung erfahren werden kann. Lea Goldberg starb im Jahr 1970 im Alter von nur 59 Jahren. In ihrer Heimat Israel ist sie nie vergessen worden. Demgegenüber muss sie im deutschsprachigen Raum überhaupt erst richtig entdeckt werden. Die Übersetzungen von Gundula Schiffer leisten dazu einen wertvollen Beitrag.

Lea Goldberg: Gedichte. Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Michael Krüger. Heft 4/August 2012, S. 351–361.

Literatur:
Benjamin, Walter: „Die Aufgabe des Übersetzers“. In: Ders.: Gesammelte Schriften IV, 1. Hg.: Rexroth, Tilmann, Frankfurt/Main, 1972.
Goldberg, Lea: Briefe von einer imaginären Reise. Übersetzt von Lydia Böhmer, Frankfurt/Main 2003.
Lorenz-Lindemann, Karin: „Zweifache Heimat. Zu einem Sonett von Lea Goldberg“. In: Dies.: Meine Wurzeln treiben hier und dort. Studien zum Werk jüdischer Autoren des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2009.
Rübner, Tuvia: „Mit dieser Nacht und all ihrem Schweigen“. Lea Goldberg (1911 – 1970). In: Oellers, Norbert (Hg.): Manche Worte strahlen. Deutsch-jüdische Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, Erkelenz 1999.
Schiffer, Gundula: „Zu einer Auswahl von Gedichten Lea Goldbergs“. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur. (Heft 4/2012), S. 363f.

Lea Goldberg wurde 1911 in Königsberg/Preußen geboren und starb 1970 in Jerusalem. Bis zu ihrer Emigration 1935 lebte sie überwiegend in Kaunas/Litauen. Von 1930 – 1933 absolvierte sie in Berlin und Bonn ein Studium der semitischen Philologie, das sie mit einer Promotion abschloss. Ab 1952 lehrte sie an der Hebräischen Universität Jerusalem im Fachbereich für Vergleichende Literaturwissenschaft. Vor allem aber ist sie in Israel als eine herausragende Dichterin hebräischer Sprache sowie als Essayistin, Kinderbuchautorin und Übersetzerin bekannt.

Gundula Schiffer, geboren 1980, lebt in Köln. Sie studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in München und widmete sich anschließend der hebräischen Sprache und Literatur, u.a. an der Hebräischen Universität Jerusalem. 2010 promovierte sie über die Poesie der Psalmen in der Übersetzung von Moses Mendelssohn. Zur Zeit arbeitet sie an ihrer Masterarbeit im Düsseldorfer Studiengang Literaturübersetzen. Übersetzungen aus dem Hebräischen u.a.: Gedichte von Lea Goldberg (Akzente 4/2012); Gedichte von Tal Nitzán (lyrikline 2011 und poetenladen online 2013); Theaterstück Oh mein Gott von Anat Gov (Pegasus 2013).

Friederike Heimann, Dr. phil., geboren 1954 , studierte in Berlin Literaturwissenschaft, Politologie und Soziologie. Nach längeren Auslandsaufenthalten in Italien und Israel lebt sie heute in Hamburg, wo sie als freie Literaturwissenschaftlerin und als Dozentin für Erwachsenenbildung tätig ist. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind deutsch-jüdische Literatur und Exilliteratur. Veröffentlichung einer Monographie mit dem Titel: Beziehung und Bruch in der Poetik Gertrud Kolmars. Verborgene deutsch-jüdische Diskurse im Gedicht (De Gruyter, 2012).