Buchcover Schichtarbeit
Hanna Ohlrogge über Tree of Codes von Jonathan Safran Foer, eine 'Übersetzung' von Bruno Schulz' Street of Crocodiles

Man möchte dieses Buch, eher Skulptur als Gebrauchsgegenstand, nur mit Vorsicht in Händen halten. Jonathan Safran Foer ist hier am Werk gewesen, ist seinem eigenen Lieblingsbuch mit der Schere zu Leibe gerückt. Buchstaben, Wörter, Sätze hat er herausgeschnitten, und übrig geblieben ist sein neuester ‚Roman‘, ein literarisches Experiment mit dem Titel Tree of Codes.

Was der Bagel für die Backkunst, das ist Tree of Codes für das Schrifttum: Beide werden zu dem, was sie sind, erst durch das, was ihnen fehlt. Und so wie der Bagel mehr ist als bloß ein Brötchen mit Loch, lebt Tree of Codes von der Lücke, von den Zwischenräumen, den Schlitzen, die den Blick auf Schicht um Schicht durchlöcherter Seiten freigeben. Nur hier und da hat Foer ein Wort stehengelassen, ein Wortgrüppchen, ein Satzzeichen, selten einen ganzen Satz, Bruchstücke, die dann ihrerseits sinnhaft werden und eine neue, ganz eigene Geschichte erzählen. Eine Geschichte aus vielen einzelnen Fragmenten, die beim Lesen erst mühsam zusammengesetzt werden müssen. Eine Geschichte, die unabhängig und gleichzeitig vollkommen abhängig bleibt von ihrem Ursprungstext, einer Kurzgeschichtensammlung des polnischen Autors Bruno Schulz mit dem Namen Street of Crocodiles.

Steinmetz

Tree of Codes ist in vielerlei Hinsicht ein hybrider Text, der auch ein Nachdenken über Wege des Übersetzens ermöglicht. Denn Foers Ausschneidetechnik beschwört das Bild eines Künstlers herauf, der sorgfältig sein Rohmaterial auswählt, ein Bildhauer etwa, der in einem Steinblock das Potential zu einer Statue entdeckt und diese dann, den Gegebenheiten und Einschränkungen seines Stoffs folgend, ans Tageslicht hämmert. Diese Sichtweise lässt sich auf den Übersetzer übertragen, dessen Arbeit ebenfalls darin besteht, den ‚Gegebenheiten und Einschränkungen seines Stoffs‘, seines literarischen Steinblocks also, zu folgen, um daraus etwas Neues zu schaffen, in dem die Anwesenheit des Alten aber zu spüren bleibt. Etwas Neues aus etwas Altem, das diesem aber Rechenschaft schuldig bleibt – Übersetzen ist in erster Linie die Arbeit an der Arbeit eines anderen. Und in diesem Sinne könnte auch Foer als Übersetzer von Street of Crocodiles verstanden werden: Tree of Codes wäre nichts ohne Street of Crocodiles und bewegt sich, wie jede Übersetzung, zwischen den Paradoxa von frei und gebunden, treu und untreu, zerstörend und überlebenssichernd. Ja, eine Übersetzung zerstört ihren Ausgangstext – sie überschreibt ihn, radiert ihn in Foers Fall sogar wortwörtlich aus – und sie sichert gleichzeitig, Walter Benjamin hat das im Vorwort zu seinen Baudelaire-Übertragungen so prägnant formuliert, sein Fortleben in einer anderen Sprache, oder exhumiert ihn in einer anderen Zeit.

Angerührt

Strukturen von Macht und Untergebenheit – bei der Bestimmung des Verhältnisses von Original und Übersetzung tauchen solche stets auf, wobei traditionell gerne die Übersetzung als untergeordnet angesehen wird. Und bei Tree of Codes? Foer macht sich – so beschreibt er den Vorgang – das Buch eines im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommenen jüdisch-polnischen Schriftstellers zu Eigen. Unter den Tisch fällt dabei aber folgender Aspekt: dass es nämlich nicht Bruno Schulz’ auf Polnisch verfasstes Original ist, woraus Foer Zeile um Zeile schöpferisch ausradiert – dieses ist nämlich 1934 erschienen und heißt Sklepy cynamonowe, ‚die Zimtläden‘ – sondern eben (und traditionsgemäß müsste es jetzt heißen: ‚nur‘) die 1963 von Celina Wieniewska angefertigte englische Übersetzung. Sie ist es, die den Titel Street of Crocodiles trägt, der von Foer buchstabenweise zu Street of Crocodiles zusammengestrichen wird. Und sie ist es auch, von der Foer im Nachwort seines Romans in höchsten Tönen schwärmt, wenn er bekennt, die Arbeit an seinem neuen Buch sei außerordentlich schwierig gewesen: So viele von Schulz’ Sätzen – sagt Foer, aber sind es nicht eigentlich Wieniewskas? – hätten sich urgewaltig und wesentlich angefühlt, unaufschlüsselbar, atomgleich unzerschneidbar. Er notiert (und ich übersetze): „Was und wie [Schulz] schreibt, ist so dermaßen gut, so viel besser als alles, was man daraus menschenmöglich hätte machen können, dass ich seinen Text instinktiv gar nicht anrühren wollte.“

Seitenansicht

Die Furcht vor dem ‚Anrühren‘ eines Originals – die Sorge also, man könnte es zu etwas machen, was es nie sein wollte, man könnte es verstümmeln, indem man ihm den eigenen Stempel allzu hart aufdrückt, oder aber ihm nicht gerecht werden, indem man einen bloßen Abklatsch daraus macht – bei ihr handelt es sich um eine Beklommenheit, die viele Übersetzer, Arbeiter an der Arbeit eines anderen, immer wieder beschleicht. Um es aber noch einmal auf den Punkt zu bringen: Street of Crocodiles ist bereits ein solcher ‚angerührter‘ Text – den Foer aber zum ‚Original‘ erhebt, indem er ihn für im Grunde genommen unantastbar erklärt und mit einer Ehrfurcht von ihm spricht, die man Übersetzungen, also in der Regel nicht kanonisierten und nicht originalen Texten gegenüber, gar nicht kennt. Die traditionelle Hierarchisierung von Original und Übersetzung wird mit Tree of Codes also infrage gestellt; es werden hier Verhältnisse umgekehrt, wird, was bereits übersetzt ist, zum Original, und wird, wer sich eigentlich als Autor versteht, durch seine Arbeit am Text zum Übersetzer. Und ganz wie ein Übersetzer wird Foer dabei zum penibelsten, tiefsten, vielleicht sogar zum idealen Leser seines Originals: „Kein anderes Buch habe ich so intensiv oder so oft gelesen. Nie habe ich so viele Satzstücke auswendig gelernt und, je weiter der Akt des Ausradierens gedieh, wieder vergessen.“

Zimtläden

Foers Buch ist ein Experiment rund um die Machbarkeiten von Text, Papier und Sprache. Wollte man es eine Stufe weiter führen, könnte man fragen: Wie wäre Tree of Codes ins Deutsche zu übersetzen? Wie übersetzt man die Übersetzung einer Übersetzung? Wäre das überhaupt möglich? Bisher jedenfalls hat sich noch kein deutscher Verlag an das Projekt gewagt. Klar ist, dass die ausgeschabte Geschichte nicht einfach so, rein inhaltlich, ins Deutsche gerettet werden kann: Zu viele Schichten blieben dabei unbedacht, zu viele verschrobene Wege ungegangen. Wahrscheinlich müsste der Übersetzer sich auf die deutsche Übersetzung von Sklepy cynamonowe beziehen – selbst auf die Gefahr hin, dass er sie nicht für ‚urgewaltig und wesentlich‘ hält. Immerhin hätte er die Wahl: er könnte Die Zimtläden (1961) von Josef Hahn zu Grunde legen, oder aber Die Zimtläden (2008) von Doreen Daume, wobei Letzterem dazu noch ein geringfügig anderer Ausgangstext zugrunde liegt als Celina Wieniewskas Street of Crocodiles. Problematisch dürfte ein solches Unterfangen allemal sein – das beginnt, davon sei an dieser Stelle exemplarisch gesprochen, schon bei der Wahl des Titels. Welche Buchstaben sollen aus Die Zimtläden gestrichen werden?

Dezime könnte das Werk vielleicht heißen, wie die zehnte Tonstufe aus der Musiklehre, das Intervall, das der Terz so ähnlich ist. Sinnfrei? Nicht, wenn man an das Bild des Originals als Melodie und der Übersetzung als Kadenz denkt: Der erste Text geht seinen Weg, erzählt seine Geschichte, Ton für Ton, mit unverwechselbarer Melodie. Der zweite Text aber begleitet diese Melodie, indem er Intervalle, also Harmonien (oder Disharmonien) dazu auswählt. Und von einer Wahl kann hier tatsächlich gesprochen werden, denn ein Akkord, das Zusammenspiel von Intervallen, muss zwar in seinen musikalischen Zusammenhang passen, ist aber alles andere als fix vorgeschrieben. Die Übersetzung ist damit als die Ergänzung ihres Originals zu verstehen, genau so, wie jede Kadenz ihren Grundton vervollständigt, bereichert, und in diese oder jene Richtung zu verschieben vermag. In welche Richtung soll die Übersetzung gehen?– das ist eine entscheidende Frage, wenn man sich vor Augen führt, dass durch die Wahl von Intervallen zum Beispiel ein Kirchenlied von Paul Gerhardt durchaus klingen kann wie amerikanischer Jazz der 1920er Jahre. Ob es das sollte, ist damit nicht beantwortet – aber an genau dieser Stelle liegt die Macht des Komponisten wie des Übersetzers.

Tree of Codes und seine Vorgänger sind damit in jedem Falle lesens- und vergleichenswerte Bücher. Nicht nur, um nachzuvollziehen, wie aus der Geschichte einer kleinbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie in Galizien traumartige Sequenzen über Verlust und Sehnsucht werden, sondern auch, weil Foers Roman eine Hommage an das Buch ist – sowohl an das Buch an sich, in seiner anfassbaren, nicht digitalisierbaren, umblätterfähigen papiernen Form, als auch an das Buch als unvollendete Symphonie, das Buch als etwas Unfertiges und Veränderbares also, etwas von Grund auf Übersetzbares.

Jonathan Safran Foer: Tree of Codes, London: Visual Editions 2010

Bruno Schulz: Street of Crocodiles, übersetzt von Celina Wieniewska, New York: Walker and Company 1963

Foto: Hanna Ohlrogge

Jonathan Safran Foer ist Autor der Romane Everything is Illuminated und Extremely Loud and Incredibly Close sowie eines Sachbuchs mit dem Titel Eating Animals. Seine Bücher haben mehrere Auszeichnungen erhalten und wurden in 36 Sprachen übertragen. Foer lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Brooklyn, New York.

Hanna Ohlrogge studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen und schrieb ihre Diplomarbeit zur Problematik amerikanischer Holocaustliteratur und ihrer deutschen Gegenstücke. Im Augenblick arbeitet sie als Übersetzerin für Nintendo und unterrichtet Übersetzen an der Heinrich-Heine-Universität.