Editorial Ausgabe 12
von Silke Pfeiffer

Liebe Leserinnen und Leser!

wie halten Sie’s mit der Treue? Was die literarische Übersetzung anbelangt, scheint es auf diese Frage lediglich eine gültige Antwort zu geben: Nur eine treue Übersetzung – und damit ist landläufig die wörtliche, die textnahe Übersetzung gemeint – ist eine gute Übersetzung. Doch ob die Übersetzer und Kritiker, die in dieser Ausgabe von ReLü sprechen und über die gesprochen wird, in diesen Lobgesang auf die Wörtlichkeit bedenkenlos einstimmen würden?

Mit der Suche nach dem passenden Wort, der richtigen Wendung, die den Sinn besser fasst als die wörtliche Übersetzung, bringt Karl Dedecius manchmal Wochen zu. Nach dieser zentralen Gestalt der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen benannte die Robert Bosch Stiftung einen Übersetzer-Preis. In Wegbereiter der Dichter berichtet Radegundis Stolze über die Vergabe des Karl-Dedecius-Preises 2011 an Esther Kinsky und Ryszard Turczyn. Letzterem kommt es bei einer Übersetzung vor allem darauf an, in seiner Muttersprache einen gewissen „Sound“ zu erzeugen und diesen „zum Klingen zu bringen“. Die Übersetzerin Gabriele Haefs würde dem wohl ohne Weiteres zustimmen. Auch ihr ging es in ihrer Übersetzung von Session. Irish Stories des irischen Musikers und Schriftstellers Mick Fitzgerald um die Musikalität ihres Textes. Wie sie diesem Sound nachspürt, verrät sie im Interview mit Johanna Wais.

Die Furcht mit einem fremden Text umzugehen und ihm dadurch entweder nicht gerecht zu werden oder sich ihn zu sehr zu eigen zu machen, die Furcht vor zu großer Nähe oder zu weiter Ferne eben, beschleicht in der Regel eher Übersetzer als Autoren. Hanna Ohlrogge beschreibt in Schichtarbeit, wie der Autor Jonathan Safran Foer bei der Arbeit an seinem neuesten Werk Tree of Codes nun von derlei Bedenken heimgesucht wurde. Solche Gefühle scheint Valery Larbaud nicht zu kennen – im Gegenteil. Vera Gerling schildert in Wie aus Treue Untreue wird, dass Larbaud mit fremden Texten vielmehr eine Liebeserfahrung verbindet. Untertänige Treue zum Originaltext wird für ihn allzu schnell zur Untreue, zum Liebesverrat. Um die obsessive Liebe zu einem „bösen Mädchen“, aber auch um die Liebe zur Sprache, zur Literatur und zum Literaturübersetzen geht es in Die Streiche der Liebe, Héctor Canals Besprechung von Mario Vargas Llosas Roman Das böse Mädchen, der von der 2008 verstorbenen Literaturübersetzerin Elke Wehr ins Deutsche übertragen wurde.

Pablo Neruda gilt als chilenischer Nationaldichter und stellt so etwas wie ein Nationalheiligtum dar. In Antonio Skármetas Roman Mit brennender Geduld fungiert er für den Postboten Mario Jiménez zudem als Lehrmeister, der diesen in die Wirkungs- (und Verführungs-)macht der Sprache einweiht. Dass auch der deutsche Leser diese Macht nachempfinden kann, ist das Verdienst Willi Zurbrüggens, dem das Kunststück gelungen ist,  Skármetas poetischen Stil so nah wie möglich und so frei wie nötig ins Deutsche zu übertragen, wie Nils Bernstein in Über nötige Freiheiten bei möglichster Nähe darlegt. Zu große Nähe zum Original, ein Streben nach Wörtlichkeit, warf man hingegen Walter Benjamins Übersetzung von Saint-John Perses epischem Gedicht Anabase vor. Dabei haben die Kritiker versäumt zu fragen, was diese Übersetzung tut und warum sie es so tut, wie sie es tut. Caroline Sauter kann in Viele Samen auf Reisen eine Antwort darauf geben.

Literaturübersetzende bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Treue und Freiheit, zwischen Original und Übersetzung, zwischen Fremdem und Eigenem. Karl Dedecius fand in seinem Aufsatz „Slawische Lyrik – übersetzt – übertragen – nachgedichtet“ kunstvolle Worte für dieses ewige Paradox:

„Kunst setzt Freiheit voraus. Das Übersetzen bietet keine Freiheit […], verlangt aber Kunst. Der Autor kann, der Übersetzer muß. Dem Autor hilft die Phantasie. Der Übersetzer braucht sie auch – und muß dabei ihr Gegenteil befolgen, eine erbarmungslose Disziplin wahren, und also seine Phantasie im Zaume halten. Die Kunst des Autors entspannt sich und beflügelt gleichermaßen damit, daß sie Launen nachgeht – die Kunst des Übersetzers kennt nur Pflichterfüllung. Die Kunst des Autors ist, wie alle Kunst, selbstbezogen. Die eines Übersetzers auch – nur muß sie darüber hinaus: ganz auf ihr Selbst verzichten, sich anderm unterordnen, im Fremden aufgehen.“

Als Knechte des fremdsprachigen und zugleich Herren ihres deutschen Textes müssen Übersetzer dem Original die Treue wahren und sich zugleich auch von ihm befreien können – um ihm treu zu bleiben.

Viel Freude bei der Lektüre der ReLü No.12 !
Silke Pfeiffer
für die ReLü-Redaktion

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