Der Reiz, eine Rezension über Leopold Federmairs Übersetzung von Ricardo Piglias Der letzte Leser zu verfassen, liegt zum einen in der Vielschichtigkeit des Werkes selbst, das sich durch die Verbindung essayistischer, narrativer und wissenschaftlicher Schreibweisen auszeichnet. So findet sich dort, wo in der deutschen Ausgabe „Essay“ steht (direkt unter dem Titel), im Original eine Leerstelle. Sie entspricht der durchgängigen Tendenz Piglias, Genregrenzen auszuloten, zu überschreiten und hierbei Literatur und Wissenschaft oder Geschichte und Fiktion miteinander zu verschmelzen. [1] Der letzte Leser, in gewissem Sinn ein autobiographischer Essay, richtet einen eigenwilligen Blick auf die Figur des Lesers in der Literatur. So entsteht eine Aneinanderreihung unterschiedlicher Lesertypen, wobei scheinbar beiläufig literaturtheoretische und literaturgeschichtliche Thesen eingeführt werden, die an den Grenzen der Literatur nicht halt machen, sondern beständig die Frage nach deren Stellenwert im Leben aufwerfen. Aus dieser Reihung idealtypischer Extremfälle entsteht ein Netz aus Textstellen, Anekdoten, Interpretationen, biographischen Ausführungen und historischen Verweisen, das einen persönlichen und gleichzeitig aufschlussreichen Zugang zur Frage nach dem Wesen der Literatur darstellt. Zu ‚letzten‘ Lesern werden die Einzelfälle durch deren Außerordentlichkeit, welche sich als Abseitsposition begreifen lässt. Piglia nennt zur Verdeutlichung das Beispiel des Lesens im Traum als besonders einleuchtenden Fall deplatzierter Lektüre.
Zum anderen liegt der Reiz, dieses Werk zu rezensieren, in dem spezifischen Verhältnis zwischen Original und Übersetzung. Zentrale Gedankengänge des Bandes thematisieren implizit oder explizit Probleme, die das Übersetzen sprachlicher Gebilde in andere sprachliche Gebilde mit sich bringt. Jede Übersetzung ist demnach auch eine bestimmte Lesart eines Textes. Piglias Lesertypen wiederum zeichnen sich durch ihre Art zu lesen aus, oder genauer: ein spezifisches, extremes Leseverständnis, das sich anhand dieser Figuren nachvollziehen lässt, macht sie zu ‚letzten‘ Lesern. Somit steht das Übersetzen von El último lector auf ausgezeichnete Weise mit dem in Zusammenhang, was gerade übersetzt wird, indem die Übersetzung immerzu eine implizite und ungewöhnliche Beziehung zum Original etabliert. Während es inhaltlich um eine Art des Lesens geht, wird diese durch die Übersetzung gerade in mehr oder weniger starkem Ausmaß vollzogen oder, andersherum, stellt die Übersetzung eine Lesart dar, die von der gerade vorgestellten Lesart in mehr oder weniger starkem Ausmaß abweicht. Dieser Zusammenhang erzeugt einen Spannungsbogen, der zentrale Gedankengänge und Motive des Bandes mit der Aufgabe des Übersetzers verzahnt. So kann die Übersetzung als Beispiel und Kommentar zu Piglias Beobachtung gelesen werden, dass die unterschiedlichen Lesertypen durch ihre jeweilige Art der Lektüre auf spezifische Weise Sinn konstruieren.
Dabei muss man sich jedoch vor Augen halten, dass Ricardo Piglia weder eine Kulturgeschichte des Lesens noch des Lesers zu schreiben beabsichtigt. Zentral ist für ihn vielmehr die Frage nach der Figur des Lesers in der Literatur, da sich die Literatur hier, so der Gedankengang, selbst zum Thema macht. Die Figur des Lesers nachzeichnen hieße in diesem Sinn nichts anderes, als das Wesen der Literatur nachzeichnen, insofern sie aus sich selbst heraus über ihre eigene Beschaffenheit reflektiert. Es drängt sich hier geradezu auf, die Überlegungen Piglias als poetologischen Kommentar aufzufassen:
La pregunta „qué es un lector“ es, en definitiva, la pregunta de la literatura. Esa pregunta la constituye, no es externa a sí misma, es su condición de existencia. Y su respuesta -para beneficio de todos nosotros, lectores, imperfectos pero reales- es un relato: inquietante, singular y siempre distinto. (S. 25)
Die Frage „Was ist ein Leser?“ ist daher letzten Endes die Frage nach der Literatur. Diese Frage ist ihr nicht äußerlich, vielmehr umreißt sie ihre Existenzbedingung. Und die Antwort auf diese Frage ist – zum Nutzen und Frommen von uns unvollkommenen, aber realen Lesern – eine Erzählung: beunruhigend, einzigartig, jedes Mal anders. (S. 24)
Hier wird deutlich, dass die Ausführungen Piglias trotz ihrer betont subjektiven Auswahl unterschiedlicher Beispiele keineswegs bescheiden sind. So ist die Darstellung der Leserfiguren unter anderem mit einer übergreifenden These zum Schreiben Kafkas verbunden, die sich auf eine biographische Begebenheit (das Treffen mit Felice Bauer) und auf eine Reihe Briefe (an eben jene Felice Bauer) stützt. Die Analyse der Leserfigur, die zu Beginn der langen Tradition des Kriminalromans durch Edgar Allan Poe etabliert wird, weitet Piglia zu einer Sicht auf die zentralen Entwicklungslinien dieses Genres aus. Eine weitere Figur des Lesers sieht Piglia in Ernesto Guevara. Sie veranlasst ihn dazu, die Weggabellungen in der Biographie des als ‚Che‘ berühmt gewordenen Guerilleros zu skizzieren und hierbei die wechselseitigen Spiegelungen von Aktion und Reflexion, von politischem Engagement und Zurückgezogenheit, von Leben und Lesen vorzuführen. Die Leserfigur wiederum, die anhand einer Szene aus Leo Tolstois Anna Karenina entworfen wird, verdeutlicht den Impuls, das eigene Leben durch die Hinwendung zur Literatur verstehen zu wollen, wobei die Spannung zwischen Sein und Schein als Prinzip des modernen Romans überhaupt aufgerufen wird. Dies führt Piglia schließlich zum Leser Robinson Crusoe, von dem es nur noch ein kleiner Schritt ist zur Geschichte des amerikanischen Kontinents sowie zur Geschichte Argentiniens.
Deutlich wird an dem Ineinanderfügen dieser zeitlich und räumlich getrennten und thematisch breit gestreuten Elemente das Verfahren Piglias. Theoretische Überlegungen werden mit narrativen Elementen, historische Eckdaten mit persönlichen Leseeindrücken und die argentinische Steppe mit der russischen Eisenbahn verbunden, um die Tragweite der aufgespürten Leserfiguren nachzuzeichnen oder auch, um diese hierbei in gewissem Sinn durch die Interpretation neu zu entwerfen.
Im Schlusskapitel „Cómo está hecho el Ulysses“ / „Wie der Ulysses gemacht ist“ wird über die Schwierigkeiten der Übersetzung hinaus die spezifische Verzahnung zwischen der inhaltlichen Dimension des Buches und dem Akt des Übersetzens besonders deutlich. Piglia analysiert hier einen zentralen Aspekt der literarischen Moderne, indem er beschreibt, wie Joyce durch seine literarische Gestaltung eine Leserfigur entwirft. Der ideale Leser des Romans zeichnet sich in diesem Sinn nicht durch die Fähigkeit aus, den Roman ‚richtig‘ zu interpretieren, sondern vielmehr durch seine Nähe zur Konstruktionsweise des Textes. Als zentralen Aspekt des Romans Ulysses erkennt Piglia die Verlagerung der zerstreuten Weltwahrnehmung in das Textgefüge selbst, das somit durch eine Fragmentierung des Sinns geprägt ist, indem der Assoziationskraft der einzelnen Wörter eine entscheidende Rolle zukommt. Er verdeutlicht seine These am Beispiel der „papa irlandesa“, der irischen Kartoffel, die an weit auseinander liegenden Stellen des Romans immer wieder auftaucht. Piglia schildert hier auf unterhaltsame Weise die Aufgabe, die sich dem Übersetzer ins Spanische stellt, und die Unmöglichkeit, dieser Aufgabe bei einer linearen Lesart des Romans gerecht zu werden. Der Übersetzer wird durch Joyce’ Roman in die schwierige Lage versetzt, ein idealer Leser entsprechend der Konstruktionsweise des Textes zu sein, um nicht ‚falsch‘ zu übersetzen. Nur so ist es möglich zu verstehen, dass die Hauptfigur tatsächlich eine Kartoffel mit sich herumträgt und es sich keineswegs um eine Selbstzuschreibung der Figur handelt, wenn von „potato“ die Rede ist, wie der Übersetzer fälschlicherweise annimmt, wenn er „potato“ mit „zanahoria“ übersetzt:
Cuando Salas Subirat traduce „zanahoria“, revela la misma sorpresa que sufre el lector que no ha leído todo el texto y no puede establecer la conexión, que sólo es posible al releer: para entender hay que leer todo el libro. (S. 181)
Wenn Salas Subirat „Karotte“ übersetzt, zeigt er dieselbe Überraschung wie jeder andere Leser, der noch nicht den gesamten Text kennt und den Zusammenhang nicht herstellen kann, der erst bei der zweiten Lektüre klar wird: um zu verstehen, muß man das ganze Buch lesen. (S. 197)
Diese Überlegungen Piglias ziehen weitreichende übersetzungstheoretische Konsequenzen nach sich. Mit der Konstituierung des idealen Lesers durch den Text wird auch die Messlatte für eine Beurteilung der Übersetzung gelegt. Intrinsisch wäre damit durch das Original die Art des Übersetzens bereits vorgegeben, über den Zwischenschritt einer literaturanalytischen Herangehensweise, die nicht nach der ‚richtigen‘ Interpretation eines Textes fragt, sondern danach, wie er gemacht ist.
Die häufigen Bezüge zu Problemen des Übersetzens in Piglias Überlegungen und die sprachliche Vielschichtigkeit des Textes, die Zitaten aus unterschiedlichen Sprachen geschuldet ist, steht in engem Zusammenhang mit einer Art Modell der Stadt Buenos Aires, das gleich zu Beginn des Buches einen entscheidenden Hinweis für die Interpretation liefert. Indem dieses Modell dem Betrachter eine außergewöhnliche Erfahrung ermöglicht, wird eine Art Perspektivierung etabliert, welche auf einen ganzen Motivkomplex des Buches voraus weist:
Estuve ahí durante un tiempo que no puedo recordar. Observé, como alucinado o dormido, el movimiento imperceptible que latía en la diminuta ciudad. Al fin, la miré por última vez. Era una imagen remota y única que reproducía la forma real de una obsesión. (S. 16)
Ich blieb dort eine Zeit, deren Dauer ich nicht angeben kann. Als würde ich halluzinieren oder schlafen, beobachtete ich die unmerkliche Bewegung, die in der winzigen Stadt flimmerte. Schließlich warf ich einen letzten Blick auf sie. Es war ein sehr fernes und einzigartiges Bild, das die reale Form einer Obsession wiedergab. (S. 15)
Ausgehend von dieser Einleitung zieht sich das Motiv der Dopplung, des Zusammen- und Widerspiels von Lesen und Leben, Realität und Fiktion, das Ausloten der Linie zwischen beiden Bereichen, sowie die grundsätzliche Frage nach deren Trennbarkeit, durch das gesamte Buch.
Das Modell, das mehr als ein Modell sein will und in diesem Sinn der ‚Wirklichkeit‘ vorausgeht, kann auch als eine Metapher für die Literatur im Allgemeinen gelesen werden. Die hierbei aufgeworfenen Fragen finden sich im Laufe des Buches in den unterschiedlichen Figuren ‚letzter Leser‘ auf vielfältige Weise gespiegelt. Die Analyse der einzelnen Leserfiguren bündelt sich schließlich im Bild von Robinson Crusoe, der auf einer Insel in einem (Sprach-)Fluss namens Joyce sitzt und ein Buch liest, das in allen Sprachen verfasst ist. Diese Perspektive am Ende des Buches erinnert an Walter Benjamins Vorstellung einer reinen Sprache, die frei ist von den Beschränkungen der einzelnen Sprachen und gleichzeitig jede dieser Sprachen umfasst.
So bleibt nach der Lektüre von Der letzte Leser neben einer Vielzahl an Erkenntnissen über Autoren, Werke und literarische Verfahren vor allem auch das geschärfte Bild eines bestimmten Lesers zurück, nämlich Ricardo Piglias selbst. Durch seine ganz persönliche Reihung letzter Leser legt er eine Dokumentation seines eigenen Lebens als Leser vor, die die scharfsinnige und analytische Lektüre mit dem konstanten Bedürfnis zur Vereinigung des scheinbar Gegensätzlichen und Entfernten verbindet.
Ricardo Piglia: Der letzte Leser. Essay, übersetzt von Leopold Federmair, Wien: Klever Verlag 2010, 208 Seiten, 19,90 €
Ricardo Piglia: El último lector, Buenos Aires: Anagrama 2005, 190 Seiten, 15 €
Ricardo Piglia wurde 1940 in der Provinz Buenos Aires geboren und gilt heute als einer der wichtigsten zeitgenössischen argentinischen Autoren. Neben dem Verfassen von Romanen tritt er auch als Essayist, Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler in Erscheinung. Er lehrt als Professor für lateinamerikanische Literatur an der Princeton University in den USA.
Leopold Federmair wurde 1957 in Oberösterreich geboren. Er studierte Publizistik, Germanistik und Geschichte und war als Lektor für deutsche Sprache in verschiedenen Ländern Europas tätig. Er ist Verfasser von Romanen und Essays und hat zahlreiche literarische Werke aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen ins Deutsche übersetzt.
Andreas Schuster wurde 1981 in Geislingen geboren. Er studierte Germanistik, Philosophie, Hispanistik und Soziologie in Konstanz, Guanajuato und Tübingen und arbeitete als DAAD-Sprachassistent in Chile. Zurzeit lebt er in Tübingen und arbeitet an seiner Dissertation über die Rolle der Literatur in der Willensfreiheitsdebatte.
[1] Auch in den beiden früher entstandenen Essaybänden Ricardo Piglias, Formas breves (1999) und Crítica y ficción (2001), oder auch in seinem Roman Respiración artificial (1980) erfolgt auf jeweils spezifische Weise eine Verschmelzung zwischen Realität und Fiktion, narrativen Elementen und literaturanalytischen oder philosophischen Erörterungen.