Die Übersetzerin sitzt übersetzend am Übersetzungsauftrag.
Anruf Verlag A: „Ich habe hier ein interessantes, aber ziemlich dickes Buch. Könnten Sie es bis Anfang September für uns übersetzen?“
Die Übersetzerin denkt: Klingt so mittelinteressant, ist aber terminlich prima. Der Auftrag, an dem ich sitze, ist fast fertig, und mit dem neuen Buch wäre ich über den Sommer gut ausgelastet. Sie antwortet: „Ja, mach ich gern und zeitlich kriege ich das auch hin.“
Anruf Verlag B: „Sie werden sich freuen, dass wir uns entschieden haben, den vierten Band der Reihe zu veröffentlichen, die Sie für uns übersetzen. Wir brauchen die Übersetzung bis August, damit das Buch noch rechtzeitig für das Frühjahrsprogramm fertig wird.“
Die Übersetzerin denkt: Diesen Band hatte ich letztes Jahr schon zwei Mal eingeplant, doch die konnten sich nicht entscheiden, und jetzt soll es plötzlich wieder schnell gehen. Aber mit ein paar ,Wochenendklausuren‘ wird es schon gehen…, und antwortet: „Wie schön, dass sich der Verlag dafür entschieden hat. Ja, die Übersetzung kann ich noch dazwischenschieben.“
Anruf Verlag C: „Ich habe hier einen sehr schönen Titel auf dem Tisch, der wunderbar zu Ihnen passen würde. Darf ich Ihnen den anvertrauen?“
Nachdem die Übersetzerin sich eine Beschreibung des zu übersetzenden Buches angehört hat, denkt sie: Wow, das hört sich nach einem wirklich spannenden Projekt an. Hoffentlich ist es nicht allzu eilig…, und antwortet: „Klingt toll! Bis wann soll die Übersetzung denn fertig sein?“
„Bis spätestens Ende Juli.“
Die Übersetzerin kalkuliert: Den Auftrag hätte ich wirklich gern, aber bis Juli ist die Übersetzung auch mit Nachtschichten und der Einbeziehung aller Wochenenden einfach nicht zu bewerkstelligen, bei allem, was ich für den Zeitraum nun schon auf dem Zettel habe, und sagt: „So gern ich das Buch übernehmen würde, bis Ende Juli bekomme ich es beim besten Willen nicht hin, weil ich andere Projekte bereits zugesagt habe, die sich nicht mehr verschieben lassen. Bis Oktober könnte ich es schaffen, früher nicht.“
„Das reicht leider nicht für das Programm, in dem der Titel erscheinen soll. Dann muss ich jemand anderen dafür suchen.“
Die Übersetzerin denkt: Mist! Das ist der mit Abstand beste Auftrag seit langem und ausgerechnet den muss ich absagen.
Durch ihr umfangreiches tägliches Übersetzungspensum ist sie in den folgenden Wochen jedoch mehr als beschäftigt. Sie arbeitet tagsüber, abends und an Wochenenden, bis erst der vierte Band der Reihe und dann das dicke Buch pünktlich abgegeben sind. Anschließend gönnt sie sich eine Woche Urlaub. Als die Übersetzerin zurückkehrt, ist eine Nachricht von Verlag D auf dem Anrufbeantworter:
„Ich habe hier einen brandheißen Titel, den wir gerade eingekauft haben, und jetzt suchen wir einen Übersetzer dafür. Melden Sie sich bis morgen, ob Sie das machen können.“
Zeit für diesen Auftrag hätte die Übersetzerin nun, aber „morgen“ ist vorbei und auf Nachfrage ist die Übersetzung bereits anderweitig vergeben. Sie denkt: So ein Ärger, wenigstens ein einziges Mal hätte ich von unterwegs den Anrufbeantworter abhören müssen, aber dem Verlag gegenüber sagt sie: „Kein Problem.“
Zudem erfährt sie während eines Gesprächs über ein Gutachten von Verlag C: „Im Nachhinein hätten Sie den Auftrag für den schönen Titel übrigens gut übernehmen können. Das Buch erscheint aus verlagstechnischen Gründen nämlich doch nicht im Frühjahrsprogramm, sondern erst im nächsten Herbst.“
Die Übersetzerin denkt: Very funny, und antwortet: „Schade, aber das konnte man ja nicht ahnen.“
Während sie also noch die zahlreichen Dinge erledigt, die in den vergangenen Monaten liegengeblieben waren, und die ein oder andere Satzfahne Korrektur liest, kümmert sich die Übersetzerin um Aufträge als freie Lektorin oder Redakteurin, Fachübersetzerin, Gutachterin, Fremdsprachenlehrerin, Buchhandelsaushilfe oder Babysitterin. Diese sind gerade organisiert, als Verlag A (oder B, C, D…) anruft:
„Ich habe hier einen wunderbaren Titel, aber er ist recht aufwändig und eilig. Könnten Sie den für uns übersetzen?“
Die Übersetzerin denkt: Ausgerechnet jetzt, aber antwortet: „Ja, mach ich gern und zeitlich kriege ich das auch hin.“ Übersetzerin bleibt Übersetzerin.
—
Anja Malich: Dipl.-Übers., lebt als freie Übersetzerin zurzeit in Genf. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen.
Danke für diese schöne Zusammenfassung unseres Berufsalltags! Sie illustriert außerdem sehr gut, dass wir nur mit dem Motto „Nicht ärgern, nur wundern“ (über)leben können!