Buchcover Vom Wort zur Tat. Ein Weg durch die Translationswissenschaft
Marlon Poggio über Entwicklungslinien der Translationswissenschaft von Erich Prunč,

Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Goethe: Faust I

Goethes Faust dekonstruiert „von Anfang an“ die alte Mär von der Wortäquivalenz, der Vokabelgleichung von einer Sprache in die andere. Erich Prunč, der namhafte Translationswissenschaftler aus Graz, möchte es ihm gleich tun. In seinem Einführungswerk Entwicklungslinien der Translationswissenschaft führt uns Prunč auf kurzem Wege durch die Translationswissenschaften, von den Vorstellungen der Wortäquivalenzen zu deren schrittweiser Dekonstruktion.

Prunč‘ Studie gibt einen Abriss über die Genese der so genannten Translationswissenschaft, von den Anfängen in den 1960er Jahren bis zur endgültigen Begründung einer eigenen Disziplin spätestens Ende der 90er Jahre. Im Zentrum der Darstellung stehen die raschen Paradigmenwechsel einer sich gerade entwickelnden Disziplin, die im Bestreben gründen, sich als Wissenschaft zu etablieren, aber auch ihrem komplexen, Fachgrenzen überschreitenden Objektbereich geschuldet sein mögen. Die fortschreitende Emanzipation von den Nachbardisziplinen mündet dabei, so Prunč, nicht in einen ehernen Monolithen, sondern vielmehr in eine objektgerechte, da methodisch-multiperspektivische „Interdisziplin“ (Snell-Hornby).

Am Anfang steht nach Prunč die symmetrische Wörtlichkeit, die Vorstellung eines stabilen vergleichenden Dritten zwischen den Sprachen. Während die maschinelle Übersetzung noch nach einem arithmetischen Verfahren zur Überwindung der Sprachgrenzen sucht und die Leipziger Schule in ihrer Hoffnung auf eine „Übersetzungsgrammatik“ schwelgt, sprengt die Wirklichkeit der Sprache sukzessive diese Vorstellungen von Äquivalenzbeziehungen zwischen Sprachsystemen; das zwischensprachliche Verhältnis von Deckungsgleichheit bleibt in der translatorischen Praxis also die Ausnahme – nicht die Regel.

Die Translationswissenschaft, so referiert Prunč weiter, entledigt sich der spanischen Stiefel der kontrastiven Sprachwissenschaft und ersetzt sie durch bequemere, offenere, luftigere Schuhe. So avanciert der kulturelle Rahmen zum neuen Bezugspunkt, und die Translatoren ihrerseits werden zu Text- und Kulturexperten, namentlich durch das „finalistische Prinzip“ der Textlinguistik, in dem die Ziel- und Zweckorientiertheit translatorischer Handlungen im Mittelpunkt steht, sowie durch das Handlungskonzept der Skopostheorie in den 80er Jahren, das die menschliche Tat und somit auch das translatorische Handeln als intentional begreift. Der Tod der Äquivalenztheorie öffnet die Disziplin für andere Objektbereiche, für das Aufkommen neuer Interaktionsmodelle, wie etwa Even-Zohars Polysystemkonzept oder die historisch-empirische Konzeption der Descriptive Translation Studies – Modelle, in denen Übersetzung, ganz auf den Grundfesten des Prager Strukturalismus, als normengeleitete Interaktion mindestens zweier literarischer Systeme begriffen wird. Wenn der Manipulation School der mittleren 80er Jahre zufolge der translatorische Ausdruck durch den Willen des Übersetzers entsteht, der die Zielkultur gleichsam gestalten möchte, so wird ein literaturwissenschaftliches Paradigma wiederum zumindest teilweise durchbrochen; zumal durch die Erkenntnis soziokultureller Abhängigkeiten wird nunmehr die kulturelle Wende eingeläutet. Differenz statt Äquivalenz, so heißt das neue translationswissenschaftliche Paradigma. Und der Translator darf voll der Spannung sein: nämlich jener zwischen seiner Aufgabe, diese Differenz zu überwinden, und seiner gesellschaftlichen Rolle, Unterschiede im Prozess der Kulturwerdung stärker oder überhaupt erst sichtbar zu machen – freilich nur auf Empfehlung „gesellschaftlicher Agenten“ (Prunč) hin…

Die Zurückdrängung der Linguistik durch die Kulturwissenschaft in der Übersetzungswissenschaft führt nun aber zur verminderten Rezeption der erstgenannten Disziplin in den Translationswissenschaften – und das zu einer Zeit, in der sich die  Linguistik sowohl der Diskursanalyse als auch der kritischen Linguistik bedient, deren soziokulturelles wie kultursemiotisches Moment für die Translation fruchtbar gemacht werden kann. In der Integration von Diskursanalyse in eine Translationswissenschaft linguistischer Orientierung sieht Prunč nach wie vor ein Forschungsdesiderat. Der Cultural Turn aber findet in den Translationswissenschaften seine Erweiterung zum „Power Turn“ (Prunč).

Die Rezeption postmoderner Modelle, allen voran der Dekonstruktion, versetzt der vermeintlich objektiven Sinnkonstanz des Äquivalenzpostulates nicht nur den Todesstoß, sie bahnt auch den Cultural Studies sowie der postkolonialen und feministischen Translationswissenschaft den Weg. Dadurch tritt ein ideologisches, noch mehr ein politisches Moment in den Vordergrund: Die „machtgeleitete Kontingenz der Sinnkonstruktionen“ (Prunč) [Hervorhebung M.P.]. Der Translator wird so als Objekt einer Translationssoziologie gleichsam entidealisiert, zum real fassbaren zoon politikon: Seine Macht im „Feld“ (Bourdieu) der Translation, mithin einer symbolischen Güterproduktion, bedeutet symbolisches Kapital in einem ökonomischen Wettbewerb um Interpretation; die Umwandlung einzelner Kapitalarten in symbolisches Kapital erfolgt nach gewissen gesellschaftlichen Regeln:

Der Roman der italienischen Schriftstellerin Ada Negri ‚Stella Mattutina‘ erschien 1938 unter dem Titel ‚Frühdämmerung (Geschichte einer Jugend)‘ im Münchner Verlag Bruckmann. Die Familie des Verlagsinhabers Hugo Bruckmann pflegte seit den 1930er Jahren enge gesellschaftliche Kontakte mit den politischen und kulturpolitischen Spitzenfunktionären der NSDAP (= soziales Kapital), hatte beachtliches Vermögen angesammelt (= ökonomisches Kapital) und konnte als renommierter Verleger auch entsprechendes Kulturkapital vorweisen. Da in seinem Verlagsprogramm die bekanntesten Künstler und Wissenschaftler der NS-Ära, vor allem Vertreter der Rassentheorie publizierten, entsprach dieses Kulturkapital im gegebenen historischen und ideologischen Umfeld auch einem immensen symbolischen Kapital. (S. 312)

Wenn in diesem Sinne die Translation lediglich durch Bewusstmachen des gesamten in steter Bewegung begriffenen translatorischen Interaktionsfeldes objektiviert werden kann, so muss sie sich doch bei der verantwortlichen Durchsetzung von Interessen eine Subdisziplin, eine Translationsethik, schaffen – so fordert Erich Prunč. Das Postulat, der Asymmetrie der Sprachen moralisch gerecht zu werden, fordert von den Translatoren, bei der Interpretation einerseits nicht ‚den Mächtigen‘ Gefälligkeit zu zollen, sondern gerade das signe hégémonique als Aufbegehren gegen die Monopolisierung der Chance auf Herrschaft zu dekonstruieren – wie die Definitionsmacht des Ausgangstextes, des Autors, des Lesers, des Originals – und für die Chancen der gesellschaftlich Verstummten einzutreten. Ein Zurücktreten hinter den Ausgangstext entspreche einer „Vogel-Strauß-Taktik“, einer Verkürzung des Translators zum Handlanger der Interpretationsmacht und somit einem politischen Verbrechen, so Prunč. Gerade aber die Tat, Zeichen zu dekonstruieren, bricht die Vorstellung eines ewig-gleichen Sinns, schafft so einen neuen Denkraum, in dem neue „Vor-Zeichen“ möglich werden und der einer Abschottung des vermeintlich Stabilen gegen das Andere Widerstand leistet.

Prunč‘ Verdienst besteht darin, die großen Schritte von der kontrastiven Linguistik über kommunikationswissenschaftliche Zugänge zu den Kultur- und Sozialwissenschaften in einer zusammenhängenden Linie interpretativ dargestellt zu haben. Unter Einbezug seiner eigenen Schwerpunkte in der Translationskultur sowie Translationsethik und eingedenk des exegetischen Konstrukt-Charakters seiner Darstellung ist ihm ein offen-sympathischer Umriss der Translation als „historisch in Konventionen gefasstes und dynamisch in neue Konventionen zu fassendes transkulturelles und doch kulturspezifisches Handeln“ (S. 11) gelungen. Die späteren Kapitel seiner Studie setzen mit steten Rückbezügen die Lektüre der vorhergehenden voraus, sodass dem Werk, im Gegensatz zu manch anderem Einführungswerk, der Nachschlagecharakter für den Unbefangenen weitgehend abhanden kommt. Besitzt der studiosus jedoch bereits einen Überblick über das weite Feld der Translationswissenschaft, wird er von der detaillierten, übersichtlichen Gliederung des Werkes profitieren: Die Themenproblematisierungen am Anfang der Kapitel sowie die Zusammenfassungen und Kontextualisierungen am jeweiligen Kapitelende, eine ganze Bandbreite an Schlüsselzitaten, die Themenbibliografien, das ausführliche Personen- und Sachregister, die immense Bibliografie am Ende des Buches (61 Seiten!) machen Prunč‘ Buch zu einem wahren Wissensschatz.

Als Einführung besticht das Werk durch die Klarheit und allgemeinsprachliche Einfachheit der Argumentationsführung. Bis zu den dekonstruktivistisch geprägten Abschnitten lockern heiter-anschauliche Anekdoten das Werk auf, die durch ihre Vielsprachigkeit unterschiedliche Leserkreise ansprechen, während Darstellungstexte und dazugehörige Anwendungsbeispiele bisweilen redundant sind; ab der zweiten Hälfte des Buches werden die Kapitel wissenschaftlich konziser. Dieser unerfreuliche Stilbruch gründet gewiss in der weitgehenden Übernahme des ersten Teils der Entwicklungslinien aus einer früheren Publikation Prunč‘, seiner Einführung in die Translationswissenschaft (Graz 2002); der zweite Teil hingegen wird sinnvoll in die vorigen Sachkomplexe eingebettet. Während in den ersten Kapiteln Fachtermini, mindestens partiell, unerklärt stehen bleiben, werden in späteren Kapiteln zuweilen bereits Grundbegriffe der Sprachwissenschaft (wie der System- oder der Normterminus) anschaulichst (!) erklärt; dass dabei hingegen – zugegebenermaßen selten – auf genauere Erläuterungen einiger Schlüsselbegriffe der Theorien (z.B. des Derridaschen différance-Begriffes) weitgehend verzichtet wird, muss für eine Einladung in die Translationswissenschaft als eher ausladend betrachtet werden.

Der überaus positive Gesamteindruck des Werkes wird ferner durch ein leider wenig sorgfältiges Lektorat und eine teilweise ungenaue Fußnotation (ungenaue Seitenverweise, partiell unpräzise Quellenreferenzen zu den Beispieltexten) getrübt. Dennoch kann der von Prunč gepflegte pluralis modestiae durchaus zurecht als pluralis maiestatis gelesen werden: Ein wichtiger Schritt hin zu einer eigenen Wissenschaft ist mit den Entwicklungslinien der Translationswissenschaft getan – und zugleich auch ein vielfach gelungener Spagat zwischen Wissenschaft und Populärmedium. Der Abrisscharakter, die inhaltlichen und bibliografischen Einbettungen in verschiedenste Nachbardisziplinen und die – bisweilen durch Anekdoten angereicherte – Einfachheit des Stils erlauben auch einem fachfremden Publikum, das Aufstreben der Translationswissenschaft zu einer Wissenschaft sui generis nachzuvollziehen. Die Öffnung der Translationsproblematik auf den Bereich der Macht bettet sie gekonnt in die globalen Machtverhältnisse der Gegenwart ein; und Translation geht dabei als Politikum jeden etwas an.

Bei aller Ursprungskritik steht bei Prunč ein Anfangswort: Der Terminus Translationswissenschaft, ein Wort, das der Bewegtheit des Sinns gerecht wird (trans-) und sich somit seine eigene Wandelbarkeit zugesteht. Nicht mehr bloß „Übersetzungswissenschaft“, nicht mehr nur „Wissenschaft vom Dolmetschen“! Nein: Unkonventionelle Hinweg-Setzung „hier-über“, „hin-über“! Trans-latio eben.

Erich Prunč: Entwicklungslinien der Translationswissenschaft. Von den Asymmetrien der Sprachen zu den Asymmetrien der Macht, Berlin: Frank & Timme 2007 (TransÜD – Arbeiten zur Theorie und Praxis des Übersetzens und Dolmetschens, Bd. 14) 438 Seiten, 39,80 €.

Erich Prunč, Prof. Dr. phil., geb. 1941 in Klagenfurt/Kärnten. Studium der Slawistik in Graz. 1988 Berufung an die Lehrkanzel für Übersetzungswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Publikationen zur Geschichte der Translationswissenschaft, zur Translationskultur sowie zur Translationsethik.

Marlon Poggio, geb. 1984 in Bühl. Studium der Romanistik, der Geschichte, der klassischen Philologie sowie der deutsch-französischen Kulturwissenschaften in Paris und Freiburg. Wissenschaftliche Hilfskraft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Publizistische und wissenschaftliche Veröffentlichungen.

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