Bekanntlich sind über achtzig Prozent der alljährlich auf der deutschen Buchmesse vorgestellten Neuerscheinungen Übersetzungen. Vielen scheint dies kaum bewusst zu sein, und auch Rezensionen literarischer Werke in deutschen Feuilletons gehen selten darauf ein.
Zuletzt hat Ulrich Greiner in der ZEIT Nr. 36 vom 27. August 2009 unter der Überschrift „Der Hammer“ begeistert den Roman Unendlicher Spaß von David Foster Wallace vorgestellt, der nach dem Tod des Autors vor einem Jahr nun praktisch posthum im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Ein Werk von rekordverdächtigen 1552 Seiten, das zuerst 1996 in den USA erschienen war und den Autor über Nacht zum Star werden ließ.
Eindrucksvoll und erschütternd zugleich, so das Fazit, sei die Leere, die Gottesferne, die den Roman wie ein schwarzer Schatten durchgeistert.
Diese Simulation eines Ichs ist komisch, vor allem aber traurig. Und wenn der Ich-Verlust, verbunden mit dem Gefühl der Leere und schwärzester Depression, so intensiv zur Sprache kommt, dass einem beim Lesen ganz kalt wird, dann überfällt einen die Trauer darüber, dass dieser geniale David Foster Wallace vor einem Jahr seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Da war er 46. Und man ahnt, was es bedeutet, mit einer derart bestürzenden, mitleidsbegabten Wahrnehmungsfähigkeit geschlagen zu sein. Ihm entgeht ja nichts.
Diese Beobachtung ist gewiss richtig und dem Buch angemessen. Aber es wird noch etwas anderes deutlich. Die Tatsache nämlich, dass das beschriebene Leiden an der modernen Welt „zur Sprache kommt“, wird zwar mit mehreren Zitaten belegt, aber der eigentliche Urheber dieser Formulierungen gerät nicht ins Blickfeld. Wohl endet die Rezension mit dem Satz: „Dass wir Infinite Jest (so der Originaltitel) in einem kongenialen Deutsch lesen können, verdanken wir der sechs Jahre währenden Arbeit von Ulrich Blumenbach. Ihm gebührt Lob und Preis.“ Gut so, aber ist das alles? Axel Rühle hatte in der Süddeutschen Zeitung geschrieben:
Viele Kritiker machen ein solches Gewese um diese unbekannten Wörter, […] man muss sie nicht verstehen, sondern kann sich vielmehr an der unendlichen Vielfalt der Sprache erfreuen, ja zeitweise neologiert man nach diesen Ausdrücken, nach der Fülle und Sprachwut, die Ulrich Blumenbach so brillant nachempfindet und oftmals kongenial neu erschafft.[1]
Soll es dabei bleiben, dass das lahme Reizwort „Kongenialität“ alles ist, was jahrelange Übersetzungskunst in deutschen Feuilletons letztlich erzielt?
Immerhin machen diese Anmerkungen deutlich, dass es durchaus möglich ist, einen Text ‚richtig‘ zu verstehen und in einer anderen Sprache eindrucksvoll wiederzugeben, sodass auch hier bei den Lesern Interesse, Erkenntnis und Erschütterung erreicht werden. Übersetzen kann mehr sein als das laienhafte ‚Herausfinden, was die einzelnen Sätze bedeuten‘, es ist mehr als bloß eine Interpretation (unter vielen), es ist mehr als nur ein Berichten über den Text, es ist mehr als eine subjektive zielkulturell dominante Aneignung der Botschaft. Recht verstandenes Übersetzen heißt tiefes Verstehen der Mitteilung, Vergegenwärtigung derselben und überzeugendes Neuformulieren des Auszusagenden.
Übersetzen ist – wie das Schreiben eines Romans – ein Geschäft in, mit und durch Sprache. Dem Autor wird von Greiner bescheinigt:
[Er] kann einfach alles, und das ist, um es gleich zu sagen, für den Leser ein Problem. Nicht selten geht er unter in den Wasserfällen endloser Sätze, in der Vielfalt der Perspektiven, der Sprechweisen, des plötzlichen Tonfallwechsels, wo Sarkasmus und Trauer, Hohn und Mitleid dicht beieinander wohnen.
Das mag im Original ja so sein, aber dies erkannt und mit ganz anderen sprachlichen Voraussetzungen nachgestaltet zu haben, das ist die Leistung des Übersetzers Ulrich Blumenbach. Diverse Beispiele werden genannt, um zu zeigen, dass DFWs Dialoge „authentischer“ wirken „als wirkliche“. Der Rezensent stellt fest: „In halb guten Romanen täuscht der Dialog lebendige Rede und Gegenrede nur vor, aber so spielt sich Kommunikation ja selten ab. Oft laufen bloß Monologe nebeneinanderher, Antworten kommen gar nicht oder verspätet.“ Wenn man bedenkt, wie viele Romane tatsächlich übersetzt sind, so könnte dieser Befund durchaus auch an unzulänglichen Übersetzungen liegen. Umso größer ist die Leistung eines Übersetzers einzuschätzen, dem es eben gelingt Authentizität in die Sprache einzubringen. Die Rezension nennt ein eindrucksvolles Beispiel dafür:
In diesem Gespräch also fragt Orin seinen Bruder Hal, wie es war, als er in der Küche den toten Vater fand, den Kopf in der Mikrowelle. Hal, damals 13, wurde zu einem Schocktherapeuten geschickt: ‚Die ganze Sache war ein einziger Albtraum. Ich bin partout nicht auf den Trichter gekommen, was der Typ wollte. Ich hab ihn enttäuscht. Er hat überdeutlich zum Ausdruck gebracht, dass ich mit dem Gewünschten nicht rübergekommen bin. Das hat’s noch nie gegeben, dass ich mit etwas Gewünschtem nicht rübergekommen bin.‘ – ‚Du warst unser erklärter Rüberkommer, Hallie, das ist gar keine Frage.‘ – ‚Es wurde eine richtige Obsession, dass ich in Trauertherapie durchfallen könnte.‘ Und was macht er? Er studiert die gesamte psychoanalytische Theorie, um rauszukriegen, was der Typ will, und kommt mit dem Gewünschten rüber.
Diese Darstellung der unterschiedlichen Sprechweisen der Figuren, die „Schilderung von Tennisturnieren oder aberwitzigen Kabinettssitzungen beim amerikanischen Präsidenten“, wie der Rezensent beispielhaft anmerkt, und vieles mehr ist Leistung des Übersetzers.
Das Übersetzen erfüllt sich im Formulieren des Verstandenen. Entsteht beim Leser in der Zielsprache eine überzeugende Einheit, dann sprechen viele von einer „kongenialen Leistung“ des Übersetzers. Dabei untersucht der Rezensent normalerweise nicht die Relation zwischen Translat und Original, wie bei einer Übersetzungskritik, sondern er stellt das Buch für potentiell interessierte Leser vor und geht dabei von den eigenen sprachlichen Präferenzen aus. Es ist daher durchaus möglich, dass dieselbe Passage für den einen Leser „authentisch“ wirkt, für den anderen dagegen gestelzt. So findet sich in der ZEIT Literaturbeilage Nr. 42 vom Oktober 2009 eine eher griesgrämige Anmerkung von Harald Martenstein zur Buchseite 464 von Wallaces Roman:
Erster Satz: „Jedes Jahr entwickelt sich an der E.T.A. ein rundes Dutzend der Jugendlichen zwischen circa zwölf und fünfzehn – Kinder im Frühestadium von Pubertät und abstraktionsfähigem Denken, wenn sich die Allergie gegen die einschränkenden Realitäten der Gegenwart gerade erst als eigentümliche Nostalgie gegenüber Dingen bemerkbar macht, die man nie gekannt hat120 –, ein rundes Dutzend dieser meist männlichen Jugendlichen also entwickelt sich zu glühenden Anhängern eines selbst gemachten Academy-Spiels namens Eschaton.“
An diesem Satz aus Unendlicher Spaß von David Foster Wallace missfällt nicht, dass er verschachtelt ist. Mir missfallen die überflüssigen oder klischeehaften Adjektive – „rundes“ Dutzend, „glühende“ Anhänger –, mir missfallen die bemüht originelle Formulierung „Frühestadium“, das prätentiöse „circa“, die alberne Fußnote (ja, ja, wir wissen doch alle längst, dass Literatur nur Literatur ist) und die mangelnde Präzision, mit der ein womöglich interessanter Gedanke über Pubertät ausgedrückt wird. Der Roman hat 1545 Seiten.
In einem halbseitigen Beitrag zu drei Neuvorstellungen wird also das Buch wegen dieses subjektiven Ärgernisses kurz abgetan. Kein Wort darüber, ob diese „mangelnde Präzision“ nun auf den Autor zurückfällt oder eine Marotte des Übersetzers darstellt. Auch hier wird nicht der Gesamtzusammenhang der Nachgestaltung und Vergegenwärtigung einer Textwelt reflektiert, was aber bei der Vorstellung eines literarischen Werkes in Übersetzung stets im Hintergrund mitschwingt.
Ein Autor schreibt, wie es ihm gefällt, ein Leser hat das Recht auf ein subjektives Urteil, doch ein Übersetzer trägt eine andere Verantwortung. Er oder sie wird versuchen, den Text möglichst umfassend, aus vielen Perspektiven zu durchdringen, das Verstandene selbstkritisch zu reflektieren, um es dann aus seiner Sicht möglichst authentisch wiederzugeben. So unterscheidet sich die translatorische Lektüre wesentlich von der gewöhnlichen, und dies sollten auch literarische Rezensionen im Feuilleton beachten.
David Foster Wallace: Unendlicher Spaß, übersetzt von Ulrich Blumenbach, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1552 Seiten, 39,95 €
David Foster Wallace: Infinite Jest, Boston: Little Brown 1996, 33,95 US$
Radegundis Stolze, Dr. phil., Dipl.-Übers., ist wissenschaftliche Autorin im Bereich Übersetzungswissenschaft, Lehrbeauftragte am Sprachenzentrum der Technischen Universität Darmstadt und selbständig tätig als Übersetzerin.