Der französische Übersetzer und Übersetzungstheoretiker Antoine Berman (1942–1991) hat aus dem Deutschen, Spanischen und Englischen übersetzt. Pour une critique des traductions: John Donne, sein letztes Buch, ist postum erschienen. Es gliedert sich in zwei Teile. Im ersten stellt Berman die Grundlagen seiner Übersetzungskritik dar und beschreibt dann eine Methode der Übersetzungskritik in sechs Schritten. Im zweiten Teil wendet er dieses Verfahren an: Die Elegie XIX des englischen Dichters John Donne, „To His Mistress Going to Bed“, sowie drei ihrer französischen Übersetzungen und eine spanische werden untersucht und miteinander verglichen.
Kritik ist für Berman etwas wesentlich Positives, sie hilft, ein Werk besser zu verstehen und ist ihm damit wesensmäßig verbunden: „la critique est ontologiquement liée à l’œuvre“. Hierin sind Kritik und Übersetzung verwandt, die eine wie die andere ist „Moment im Fortleben der Werke“ (hier bezieht Berman sich auf Walter Benjamin). Ein Ziel der Bermanschen Übersetzungskritik ist es, die Wesensmerkmale einer Übersetzung als eigenständiges Werk und ihre Bedeutung für das Original herauszustellen, sie von ihrem „Geburtsfehler“, ihrer „tare originaire, sa secondarité“, zu befreien.
Bermans Ansatz ist hermeneutisch; er beruft sich explizit auf Paul Ricœur und Hans Robert Jauß. Dies hat zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen interessiert er sich für die Einbettung von Original und Übersetzung in die Kulturen und Literaturen der jeweiligen Ausgangs- und Zielsprache. In diesem Zusammenhang führt er die wichtige Unterscheidung zwischen Übersetzung (frz. traduction) und Translation (frz. translation) ein. „Traduction“ bezeichnet bei Berman nur die spezielle Übersetzung eines Originaltextes, während „Translation“ den gesamten Prozess meint, in dem das Original in einer anderen Kultur aufgenommen wird. Als zweite Konsequenz seines Ansatzes richtet Berman seinen Blick auf den Übersetzer. Er fragt nach Horizont und Position des Übersetzers und nach seinem Übersetzungsprojekt. Hiermit sind wir bereits mitten im Bermanschen Verfahren, dessen sechs Schritte nun dargestellt werden sollen.
Der erste Schritt besteht in der wiederholten Lektüre der Übersetzung. Dabei soll sie zunächst als eigenständiges Werk in der Zielsprache gelesen werden. Der Leser hat darauf zu achten, ob es sich um einen sich selbst tragenden Text handelt. Erst bei der zweiten Lektüre wird er als Übersetzung wahrgenommen. Dabei werden Passagen angestrichen, in denen er seinen Rhythmus verliert oder zu eng an die ausgangssprachliche Konstruktion angelehnt ist, aber auch besonders gelungene Abschnitte.
Im zweiten Schritt wird das Ursprungswerk gelesen, zunächst ohne Vergleich mit der Übersetzung, aber bereits im Hinblick auf die ausgewählten Passagen, die für eine spätere Gegenüberstellung auch in diesem Text markiert werden. Der Kritiker vollzieht jetzt teilweise die Arbeit des Übersetzers nach, indem er eine Art Voranalyse leistet. Er achtet auf stilistische Merkmale des Werkes, seinen Rhythmus, auf Sprachregister und Schlüsselwörter. Ausgehend von einer solchen Interpretation sind die zentralen Stellen des Werkes zu ermitteln. Fast zwangsläufig wird man dabei Sekundärliteratur zu Rate ziehen.
Obwohl der Kritiker nun die Übersetzung und das Original kennt, ist der Zeitpunkt für einen Vergleich noch nicht gekommen. Der würde nur eine Reihe von „Abweichungen“ offenlegen, die unerklärlich bleiben müssten. Eine andere Übersetzung würde andere Abweichungen zeigen, die ebenso willkürlich erscheinen, außer, der Kritiker fragt danach, was die Arbeit des jeweiligen Übersetzers eigentlich charakterisiert. Dies bildet den dritten Schritt der Methode. Dabei interessieren Berman an der Person des Übersetzers Dinge wie: Was ist seine Muttersprache? Ist er vielleicht zweisprachig? Aus welchen Sprachen übersetzt er? Welchen Beruf hat er gelernt oder übt er neben dem Übersetzen aus? Welche Position bezieht der Übersetzer? Damit ist seine allgemeine Einstellung zum Übersetzen (unabhängig von einem einzelnen Werk) gemeint. Der Horizont einer Übersetzung hat viele Dimensionen. Wie weit ist der zu übersetzende Autor in der Zielkultur bekannt? Wie steht es mit anderen Autoren derselben Epoche? Falls es sich um Lyrikübersetzung handelt: Wie ist der derzeitige Stand der Lyrik in der Zielsprache?
Das von Berman so genannte Übersetzungsprojekt („projet de traduction“) ist das Kernstück seiner Übersetzungskritik, denn es bildet den Maßstab für die Beurteilung einer speziellen Übersetzung. Das Übersetzungsprojekt besteht aus konkreten Lösungsansätzen für die vom Original gestellten Probleme. Der Übersetzer kann ein solches Projekt zu Beginn seiner Arbeit erstellen, um die Einheitlichkeit seiner Übersetzung zu gewährleisten, er kann sich aber auch auf seine Intuition verlassen. Der im Sinne Bermans handelnde Kritiker hingegen, der die Entscheidungen des Übersetzers offenlegen und verstehen will, hat in jedem Fall die Aufgabe, das der Übersetzung zugrunde liegende Projekt zu rekonstruieren. Dabei können Äußerungen des Übersetzers (etwa in einem Nachwort oder in Interviews) hilfreich sein, in jedem Falle ist die Übersetzung selbst auf ein erkennbares Projekt hin zu untersuchen. Nach Berman gliedert sich dieses in einen Translations- und einen Übersetzungsteil, entsprechend der oben eingeführten Unterscheidung. Im ersten Teil geht es um Fragen wie: Handelt es sich um eine Einzelübersetzung, oder ist die Übersetzung Teil einer Gesamtausgabe? Soll eine Auswahl (von Gedichten, Erzählungen) übersetzt werden oder eine vom Autor zusammengestellte Anthologie? Wichtig ist im Translationsteil auch die „Abstützung“ der Übersetzung durch Paratexte. In dem der Übersetzung selbst gewidmeten Teil des Projekts muss der Übersetzer Entscheidungen fällen wie: In welcher Form soll gebundene Sprache übersetzt werden? Wie gehe ich mit dialektalen Elementen um? Wie mit phonetischer Schreibweise oder sondersprachlichen Ausdrücken? Wie behandle ich den Einsatz der verschiedenen grammatischen Zeiten? Vollziehe ich spezielle syntaktische Konstruktionen des Originals (etwa segmentierte Sätze) nach? Wie bilde ich sprechsprachliche Elemente ab?
Dem Kritiker obliegt es nun, das Projekt zunächst zu rekonstruieren und dann seine Umsetzung zu prüfen. Falls er kein Projekt erkennen kann, ist die Übersetzung höchstwahrscheinlich inkonsistent. Seine Aufgabe besteht dann darin, diesen Mangel zu benennen und anhand von Beispielen zu belegen.
Erst der vierte Schritt der Übersetzungskritik besteht in der Gegenüberstellung von Original und Übersetzung. Bei längeren Werken muss sich der Kritiker auf die ausgewählten Passagen beschränken. Beim Vergleich kann er weitere Übersetzungen des Werkes hinzuziehen, auch solche in andere Zielsprachen. Die Beurteilung der Übersetzung beruht nun auf der Kritik des Projekts und seiner Umsetzung, sowie zwei weiteren von Berman genannten Kriterien, nämlich „poéticité“ und „éthicité“ (poetischem und ethischem Gehalt). Über sie herrscht nach Bermans Meinung allgemeiner Konsens, sie sind damit nicht so variabel wie das sehr übersetzerabhängige Projekt. Die poéticité liest sich in den Worten Bermans so: „Le traducteur doit toujours vouloir faire œuvre.“ Es muss immer die Absicht des Übersetzers sein, ein in sich stimmiges Werk zu schaffen (vgl. den ersten Schritt). Dieses Werk soll die inneren Bezüge und den „Ton“ des Originals wiedergeben. Die éthicité besteht in „einer gewissen Achtung vor dem Original“. Einerseits geht es darum, dem Original nicht sklavisch zu folgen, andererseits müssen alle eventuellen Auslassungen, Umstellungen oder Änderungen (wie sie etwa bei der Übersetzung von Theaterstücken durchaus vorkommen können) vom Übersetzer offengelegt werden.
Im fünften Schritt geht es um die Rezeption der Übersetzung. Hierzu kann der Kritiker vom Verlag das Pressedossier anfordern. Er liest die Rezensionen daraufhin, ob sie die Arbeit des Übersetzers überhaupt erwähnen und wie sie darauf eingehen. Er kann die Urteile der anderen Kritiker mit dem eigenen vergleichen.
Der sechste und letzte Schritt der Bermanschen Methode ist der „produktiven Kritik“ gewidmet. Hier kann der Kritiker die Grundzüge einer Neuübersetzung umreißen, falls er sie für notwendig hält. Hat er es aber mit einer gelungenen Übersetzung zu tun, kann er noch einmal ihre „Wahrheit“, ihren positiven Gehalt, darstellen.
Im zweiten Teil seines Buches untersucht Berman mit beeindruckender Gelehrsamkeit die erwähnte Elegie John Donnes und ihre französischen Übersetzungen, die ihn nicht überzeugen. Die spanische Übersetzung von Octavio Paz in freien Versen beurteilt er hingegen sehr positiv. Sie dient ihm als Anlass, über den Zusammenhang zwischen Prosa und Lyrik nachzudenken. Diese Überlegungen führen ihn schließlich dazu, die allgemeine Orientierung einer möglichen Neuübersetzung Donnes ins Französische vorzustellen, in die auch sein Prosawerk Einlass fände und in der die sprechsprachlichen Elemente der Lyrik Donnes stärker berücksichtigt würden.
Pour une critique des traductions wurde 1991 abgeschlossen. Neuere Ansätze hat z. B. der Göttinger Sonderforschungsbereich „Die literarische Übersetzung“ in den 90er Jahren erarbeitet („Göttinger Beiträge“). Zu der Methode Bermans selbst ist zu sagen, dass sie für eine möglicherweise kurze Rezension zu aufwändig ist. Zudem sind die angesprochenen Themenkreise eng miteinander verwoben und lassen sich kaum ohne Wiederholungen in der angegebenen Reihenfolge darstellen. Der dargestellte „Parcours“ ist allerdings von Berman eher als Vorschlag gemeint, dessen einzelne Stationen der Übersetzungskritiker auch mehrfach durchlaufen kann. So erschließt sich das Übersetzungsprojekt erst im Vergleich zwischen Übersetzung und Original, der Kritiker muss also zwischen dem dritten und vierten Schritt hin- und herwechseln. Die Form und Länge der niedergeschriebenen Kritik müssen je nach Anlass und Zweck bestimmt werden.
Positiv lässt sich vermerken, dass die von Berman eingeführte Unterscheidung zwischen Translation und Übersetzung und der zentrale Begriff des Projekts zum Verständnis des Übersetzungsprozesses sehr hilfreich sind. Zudem wertet der Ansatz Bermans das Original nicht von vornherein als die überlegene Version und unterstreicht die Autonomie des Übersetzers. Dem Kritiker, der das Übersetzungsprojekt in seine Überlegungen mit einbezieht, wird bewusst, dass er sein Urteil nicht nach fertig vorgegebenen Maßstäben fällt.
Für eine Übersetzungskritik oder einen Übersetzungsvergleich bietet Bermans Buch zahlreiche Anregungen und auf Wunsch sogar eine Arbeitsanleitung. Im zweiten, ‚angewandten‘ Teil wird die Brauchbarkeit der Methode demonstriert. Leser, die des Französischen nicht mächtig sind, haben demnächst die Möglichkeit, sich über Bermans Vorgehensweise zu informieren anhand von Irène Kuhns Untersuchung Antoine Bermans „produktive“ Übersetzungskritik. Entwurf und Erprobung einer Methode, die im Verlag Gunter Narr erscheinen wird. Ihr Buch enthält eine Darstellung der übersetzungstheoretischen Ideen Bermans sowie die Übersetzung des theoretischen Teils der „Critique“ (ich habe die Eindeutschung einiger Begriffe daraus übernommen). Im abschließenden Teil erprobt sie das Verfahren dann an vier deutschen Übersetzungen des Gedichts „Les Petites Vieilles“ von Charles Baudelaire und bietet damit weiteres Anschauungsmaterial.
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Antoine Berman: Pour une critique des traductions: John Donne. Paris: Gallimard 1995, 278 Seiten
Antoine Berman (1942–1991) war Übersetzungstheoretiker und Übersetzer aus dem Deutschen, Spanischen und Englischen. Aus dem Deutschen übersetzte er unter anderem theoretische Schriften von Novalis und Friedrich Schlegel sowie das Kinderbuch Ben liebt Anna von Peter Härtling. Zusammen mit seiner Frau Isabelle Berman übersetzte er lateinamerikanische Autoren, z. B. Augusto Roa Bastos (Yo el Supremo) und Roberto Arlt (Los siete locos). Zu seinen theoretischen Schriften gehören L’épreuve de l’étranger und La Traduction et la lettre ou l’Auberge du lointain. Er unterrichtete am Pariser Institut Supérieur d’Interprétation et de Traduction (ISIT), am Collège International de Philosophie und am Centre Jacques Amyot.