Buchcover America’s Most-Wanted Teddybär
Daniela Eltrop über Winkie von Clifford Chase, aus dem Amerikanischen übersetzt von Marcus Ingendaay

Wissen Sie, wo Ihr alter Teddybär gerade ist? Im Keller oder im Regal in Ihrem alten Kinderzimmer? Sind Sie sicher? Auch Cliff wähnt Winkie, seinen Teddybären aus Kindertagen, in einem Regal in seinem Elternhaus. Doch dann sieht er ihn in einer Nachrichtensondersendung: Winkie scheint Amerikas ‚most-wanted‘ Terrorist zu sein. Wie aber kam der kleine, so unschuldig wirkende Bär in diese prekäre Lage?

Eines Tages hat Winkie genug. Nachdem er sechs Kindern beim Aufwachsen zugesehen hat und danach jedes Mal links liegen gelassen wurde, beschließt er, diesem Leben den Rücken zu kehren. Aus eigener Kraft schüttelt er den Staub ab und springt von seinem Regal in die Freiheit. In einem Waldstück beginnt er sein neues Leben als „echter Bär“. Wie durch ein Wunder bekommt das Stofftier dort Nachwuchs, und sein neues Glück scheint perfekt. Doch ein im Wald lebender Misanthrop, welcher der Welt seine Abscheu in Form von Briefbomben kundtut, verliebt sich in Baby Winkie und entführt sie. Winkie kann sein Kind nicht retten, so dass das kleine Bärenmädchen in Gefangenschaft vor Trauer „verglüht“, und auch sein herzkranker Entführer stirbt. Von nun an vegetiert Winkie in der Hütte des toten Einsiedlers vor sich hin, bis er eines Tages von einem Terroreinsatzkommando aufgespürt, angeschossen und festgenommen wird. Winkie wird für den „Mad Bomber“ gehalten und vor Gericht über zweitausend abstruser Straftaten beschuldigt, unter anderen wegen „Festhalten an dem Irrglauben, dass die Erde sich um die Sonne drehe“. Man hält ihn für eine neuartige Killerwaffe, denn niemand mag glauben, dass ein einfacher Teddybär zum Leben erwacht sein kann. In einem Gerichtsverfahren, bei dem zahlreiche dubiose Gestalten gegen Winkie aussagen, stehen ihm nur drei Menschen zur Seite: die lesbische Krankenschwester Françoise, sein Zellengenosse Darryl, der einfach seine Kuscheltiere vermisst, und Winkies Pflichtverteidiger Unwin, der, wie sein Name schon sagt, noch nie einen Fall gewonnen hat. Während des monatelangen Prozesses, in dem sich Amerikas ganzer Hass gegen Terroristen auf Winkie entlädt, lässt dieser sein Leben als Teddybär noch einmal Revue passieren. Werden die Geschworenen den „genmanipulierten Zwerg“ zum Tode verurteilen oder erkennen, dass Winkie ein fast normales Kuscheltier ist, das sich einfach danach sehnt, umarmt und geliebt zu werden?

Clifford Chases Debütroman Winkie ist außergewöhnlich schräg und dabei doch ernst. Das Buch zeigt eine neue Form der Kritik am Antiterrorkampf der USA. Schon seit längerem setzt sich Chase mit diesem Thema auseinander, und Winkies Perspektive ermöglicht es ihm, das Bizarre im US-amerikanischen Umgang mit der Angst hervorzuheben. Ihre persönliche Note erhält die Geschichte durch die Tatsache, dass Winkie tatsächlich ein ‚Familienmitglied‘ des Autors ist. Einst der Teddybär seiner Mutter Ruth Chase, wurde er an ihre fünf Kinder weitergereicht, bis er schließlich bei Clifford selbst ankam. Dabei erfährt der Leser nicht nur Auszüge aus der Familiengeschichte, sondern auch einiges über die Hintergründe des Lebens in den 1920er und 1960er Jahren, unter anderem über den Rassismus gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung. Natürlich ist Winkie keine realistische Geschichte, im Gegenteil, der Autor lässt seiner Phantasie freien Lauf. Dabei erzählt Chase stets meisterhaft, spielt mit verschiedenen Genres und Stilen, variiert das Erzähltempo, webt Zitate berühmter Autoren ein und karikiert die unterschiedlichsten Personengruppen sowie ihre sprachlichen Eigenheiten.

Genau darin liegt die Schwierigkeit für den Übersetzer. Für ihn gilt es, sich jederzeit auf einen anderen Stil, auf ein anderes Sprachregister einzustellen. Dies gelingt Marcus Ingendaay in jeder Hinsicht. Der preisgekrönte Übersetzer trifft sowohl den Ton der Soldaten („aber dalli“, „Echt, ich puste dir die Rübe weg“) als auch der Kinder („pardauz“, „Auge hat Aua“) sowie der Gefängnisaufseher („Ich hab dich auf dem Kieker“, „Kleiner Wichser“). Auch für den eigentlich nicht zu übersetzenden afroamerikanischen Dialekt, der von der Familie Chase zu ihrer Belustigung übertrieben imitiert wird, findet Ingendaay eine gute Lösung („Hallo, jemand von die weiße Leute da?“). Dem Erzähltempo passt sich der Übersetzer stets an, und dadurch gelingt ihm die stimmige Übertragung sowohl eines harten Verhörs als auch der poetischen Beschreibung von Winkies ersten Eindrücken in der freien Natur.

So liest sich die Übersetzung, als sei sie ein Original, einzig die Bedeutung der sprechenden Namen wird dem Leser der Übersetzung womöglich entgehen. Englischsprachige Leser wissen etwa, dass der Name Winkie vom Verb „to wink“ (= zwinkern) abgeleitet ist und sich auf die Fähigkeit des Bären bezieht, seine Augen klimpern zu lassen. Auch werden dem Leser ein paar Schmunzler vorenthalten, als Winkies mögliche Pflichtverteidiger aufgelistet werden, die beispielsweise „Bane“ (= Fluch) oder „Fink“ (= Saftsack) heißen. Dabei ist natürlich anzumerken, dass die Übersetzung von Eigennamen immer ein zweischneidiges Schwert ist. In diesem konkreten Fall wäre es wohl zu umständlich gewesen, jeden einzelnen Namen zu übersetzen oder mit einem erklärenden Nebensatz zu versehen. So behält Ingendaay den ‚ausländischen‘ Charakter des Originals bei und verdeutlicht dem Leser noch einmal, dass die Geschichte in den USA spielt. Insofern ist seine Entscheidung, die Originalnamen beizubehalten, nachvollziehbar.

Winkie ist ein modernes Märchen, eine Gesellschaftssatire und zugleich auch eine Art Autobiographie. Der kleine Bär erzählt so rührend von seinem Leben, dass man sich ein wenig schuldig fühlen wird, seine alten Lieblinge im Regal verstauben zu lassen. Chases Roman ist erfrischend anders und wird durch die kongeniale Übersetzung von Marcus Ingendaay auch im Deutschen zum reinen Lesevergnügen.

Clifford Chase: Winkie, aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Marcus Ingendaay, Berlin: Berlin Verlag 2006, 254 Seiten, €18,90

Clifford Chase: Winkie, New York: Grove Press 2006, 240 Seiten

Clifford Chase wurde 1958 in Stamford, Connecticut, geboren. Das Schriftstellerhandwerk erlernte er u. a. bei Donald Barthelme, dem wohl bedeutendsten Vertreter der amerikanischen Postmoderne. 1999 veröffentlichte er den Essay „Queer 13: Lesbian and Gay Writers Recall Seventh Grade“ und fast zeitgleich die autobiographische Geschichte „The Hurry-Up Song: A Memoir of Losing My Brother“. Auch sein erster Roman Winkie (2006) ist teilweise autobiographisch, da der wirkliche Winkie seit etwa 80 Jahren im Besitz der Familie Chase ist.

Marcus Ingendaay wurde am 24. Mai 1958 in Bonn geboren. Nach dem Abitur studierte er Anglistik, Germanistik und Theaterwissenschaften an den Universitäten Köln und Cambridge. Zunächst arbeitete er als Werbetexter und Reporter, heute lebt er als freier Schriftsteller und Übersetzer in München. Hauptsächlich übersetzt er die Werke von David Foster Wallace, William Gaddis und Helen Fielding (Bridget Jones). 1997 erhielt Ingendaay den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis, 2000 folgte der Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis.