Buchcover Autor und Übersetzer: Ein intimer Austausch
Stefanie Hattel im Interview mit Jean-Philippe Toussaint

Im Juli 2005 folgte der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint der Einladung Prof. Dr. Hans T. Siepes zu einem Workshop mit Nachwuchsübersetzern des Studiengangs Literaturübersetzen der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Im Anschluss nahm er sich Zeit für dieses exklusive Gespräch mit ReLü.

ReLü: Monsieur Toussaint, Ihre Bücher sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Sie sind der einzige lebende Autor, von dem eines seiner Bücher zwei Mal übersetzt wurde: Das Badezimmer erschien in Deutschland zuerst 1987 in der Übersetzung von Jürgen Hoch und ein zweites Mal 2004 in der Neuübersetzung von Joachim Unseld (siehe ReLü 1/2005). Welche Bedeutung hat das Übersetzen für Ihr Schreiben, für Ihr Werk?

Jean-Philippe Toussaint: Es ist mir sehr wichtig. Ich freue mich über die wachsende Zahl von Übersetzungen meiner Bücher. Ich bin froh darüber, in zahlreichen Ländern gelesen zu werden, und was die Möglichkeiten der Übersetzung betrifft, bin ich von Grund auf optimistisch. Der Beweis: Kafka, Musil, Dostojewski, Faulkner, Nabokov usw. habe ich alle auf Französisch gelesen und eben der ‚Stil‘ dieser Autoren hat mir gefallen. Mit anderen Worten: Es ist durchaus möglich, die stilistischen Merkmale eines Buches schätzen zu lernen, das in einer anderen als der eigenen Sprache geschrieben ist, sofern es sich um einen herausragenden Schriftsteller und einen guten Übersetzer handelt.

Um meinen Gedanken zu verdeutlichen, möchte ich aus einem Text zitieren, den ich 2004 in Hamburg zum Kolloquium „Europa schreibt“ verfasst habe und der genau diese Frage anspricht:

„Letztes Jahr, im Dezember 2001, als ich mich in Südchina zwischen Kanton und Khangzha in einem Nachtzug befand, betrachtete ich die Frau meines chinesischen Verlegers, die mir gegenüber in ihrer Koje lag und La Reprise von Robbe-Grillet auf Chinesisch las, und während ich ihr beim Lesen zusah, fragte ich mich fasziniert, was genau von Robbe-Grillets Buch zu ihr durchdringen würde. Ich selbst hatte das Buch einige Wochen zuvor gelesen, und mir schien, dass dieses derartig kodierte Universum, in dem der Stil so wichtig ist, einem chinesischen Geist nicht so einfach zugänglich sein könnte. Natürlich hatte ich mir schon oft die Frage gestellt, was genau Asiaten lesen, wenn sie europäische Literatur in der Übersetzung lesen, und jedes Mal, wenn man mich glauben machen wollte, dass ihnen beim Lesen von Übersetzungen unglaublich viel verloren gehe, war meine Antwort paradoxerweise, dass auch den meisten europäischen Lesern, wenn sie Bücher in ihrer eigenen Sprache lesen, in Bezug auf die Intention des Autors viel verloren geht, und dass letztlich jeder Leser, ob Europäer oder Asiate, gebildet oder ungebildet, sich irgendwo auf der Skala des Verlustes zwischen dem, was der Autor ausdrücken wollte und dem, was der Leser davon wahrnehmen kann, befindet, und dass letztlich ein gebildeter und sensibler chinesischer Leser viel mehr aus einem Buch herausholen kann, das aus einer europäischen Sprache übersetzt ist, als ein europäischer Leser, der die stilistischen Feinheiten nicht erkennt, die er in seiner eigenen Sprache liest. Denn über Kontinente und Grenzen hinweg ist die Literatur ein intimer Austausch zwischen zwei Menschen.“

Erkennen Sie Ihre Romane in ihren Übersetzungen wieder? Können Sie sich als Autor mit den Übersetzungen Ihrer Bücher identifizieren?

Ich lese die Übersetzungen meiner Bücher nicht, und das ist sicher auch besser so. Ich habe nicht die Sachkenntnis, die Qualität eines englischen, deutschen oder italienischen Textes zu beurteilen (und schon gar nicht eines japanischen oder bulgarischen…).

Im Workshop sprachen Sie auch von einem „intimen Kontakt“ zwischen Autor und Übersetzer. Sie laden Ihre Übersetzer sogar ein, im Collège Européen des Traducteurs littéraires in Seneffe mit Ihnen gemeinsam an Ihren Texten zu arbeiten. Beschreiben Sie uns doch bitte, wie diese Zusammenarbeit aussieht.

Die Übersetzer bereiten Fragen vor, die sie mir stellen möchten, und wir setzen uns jeden Tag zusammen. Jeder Übersetzer hört die Fragen aller anderen und profitiert von meinen Antworten. So kommt es schon einmal vor, dass einige Fragen Probleme aufwerfen (und Lösungen anbieten), die Übersetzer aus anderen Sprachen nicht einmal wahrgenommen haben.

Was macht für Sie eine ‚gute‘ Übersetzung aus?

Folgende Eigenschaften sollte ein Übersetzer haben: Stil, Geduld, Bescheidenheit, Genauigkeit.

Für wie wichtig halten Sie den spezifischen Charakter des Französischen für Ihr Werk? Macht Ihre Verwurzelung in der französischen Sprache eine Übersetzung nicht so gut wie unmöglich?

Nein, ich bin für andere Sprachen offen. Nur habe ich die Schwäche zu denken, dass der französische Text nicht zu übertreffen ist, nicht, weil er auf Französisch geschrieben, sondern weil es die Originalsprache ist. Jede Übersetzung kann nicht mehr tun, als sich an ihre Perfektion anzunähern.

Haben Sie als Autor das Recht, die endgültige Fassung der Übersetzung zu autorisieren?

Rechtlich gesehen nicht. Und in der Praxis auch nicht – glücklicherweise. Ich bin nicht kompetent genug, einen Text in einer anderen Sprache als der meinen zu beurteilen. Manchmal – selten – kommt es vor, dass ich protestiere oder mich beschwere. Im Folgenden ein Ausschnitt aus einem Brief an Irène Lindon, der Verantwortlichen der Editions de Minuit vom Februar 2004:

Im vergangenen Herbst leitete mir der amerikanische Verleger von Faire l’amour über Ihren Agenten zwei Fragen weiter. Die erste lautete: „Eine der Figuren im Buch heißt Yamada Kenji, was der Lektor für eine Verdrehung eines traditionellen japanischen Namens hielt. Er schlug vor, Vor- und Nachnamen zu vertauschen, so dass man stattdessen Kenji Yamada lesen würde. Der Übersetzer rief beim japanischen Konsulat in New York an, und die Leute dort stimmten mit ihm darin überein, dass der Name wie umgedreht aussehe. Ist es in Ordnung, dies durchgängig zu ändern?“ Und ich gab folgende Antwort: „Yamada ist sein Name, Kenji ist sein Vorname. Ich benenne ihn nach japanischer Art (oder allgemein nach asiatischer Art). In asiatischen Sprachen steht der Familienname im Allgemeinen vor dem Vornamen. Ich nenne ihn also Yamada Kenji, um seinem Namen etwas Japanisches zu geben. Kenner werden das zu schätzen wissen. (…) Im Französischen wie im Englischen steht üblicherweise der Vorname vor dem Nachnamen. Wenn ich (wie hier) die Reihenfolge vertausche, scheint es mir angebracht, dies zu respektieren und Yamada Kenji mit… Yamada Kenji zu übersetzen.“ Das scheint mir eine klare Antwort, oder? Dennoch ist in der amerikanischen Übersetzung „Yamada Kenji“ mit „Kenji Yamada“ übersetzt. Verärgert und ein wenig verstimmt über die geringe Bedeutung, die man meiner Antwort beimaß, gelangte ich beim Überfliegen des Buches mehr und mehr zu der Überzeugung, dass die unzähligen Ungenauigkeiten der Übersetzung, die ich dabei aufdeckte, eher auf Nachlässigkeit denn auf Inkompetenz zurückzuführen waren. Davon abgesehen habe ich gewisse Skrupel, ich, der ich so enge Kontakte zu einigen meiner Übersetzer pflege (Kan Nozaki, Bernd Schwibs, Marianne Kaas, Roberto Ferucci, Yu Zhongxian, Jovanka Sotolova, John Lambert usw.), ich, der ich ihnen kürzlich einen meiner Text widmete (Le jour oú j’ai découvert la traduction assistée par ordinateur, den Sie unter www.bon-a-tirer.com finden), ich, der ich freiwillig mit ihnen zusammenarbeite und immer und detailliert auf ihre Fragen antworte, der ich ihre Schwierigkeiten und häufig auch ihre Einsamkeit kenne, ich musste eine Bestandsaufnahme der Schnitzer in einer Übersetzung machen. Doch um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Ich urteile hier nicht über den Wert dieser Übersetzung. Ich fälle kein Urteil über die Eigenarten der Sprache. Ich lege nur den Finger auf einige Freiheiten, die man sich hier gegenüber dem Ausgangstext herausgenommen hat.

Urteilen Sie selbst, und das allein auf der ersten Seite:

1) Zeile 3 und 4: Im Französischen stehen keine Klammern. Im Englischen dagegen ist „(a small bottle of colored glass that had once held hydrogen peroxide)” in Klammern gesetzt. Wenn man weiß, welche Bedeutung ich Klammern seit Das Badezimmer beimesse und mit welcher Sorgfalt ich sie verwende… Hätte ich diesen Ausschnitt in Klammern setzen wollen – und vor allem an einer strategisch so wichtigen Stelle wie dem zweiten Satz des Buches –, hätte ich ihn auch in Klammern gesetzt. Usw.

Einige Ihrer Bücher haben Sie auch verfilmt: La salle de bain (1989/91), Monsieur (1989), und La Sevillane, der auf L’appareil-photo von 1992 beruht. Ist das für Sie eine dem Übersetzen vergleichbare Arbeit?

Nein. Wenn ich eines meiner Bücher verfilme, geht es mir nicht im Geringsten darum, dem Buch „treu“ zu bleiben. Ich versuche viel mehr, dem Geist des Buches treu zu sein, nicht seinem Wortlaut – das ist schwer zu übersetzen, oder – „Nicht dem Geist des Buches treu zu sein, sondern seinem Wortlaut“?!

Das Interview führte Stefanie Hattel in französischer Sprache. Übersetzung: Stefanie Hattel und Caroline Grunwald

Jean-Philippe Toussaint, 1957 in Brüssel geboren, begann bereits während seines Geschichtsstudiums am Institut des Sciences Politiques de Paris und an der Sorbonne „sérieusement“ zu schreiben. Sein erster Roman „La salle de bain“ entstand während eines Algerienaufenthaltes (1982–1984), wo er als Französischlehrer tätig war. Das Manuskript, das Toussaint Alain Robbe-Grillet und einer Reihe von Verlagen zuschickte, stieß zunächst auf Ablehnung. Ein Exemplar gelangt in die Hände von Jérôme Lindon, dem Verleger der Éditions de Minuit, der es 1985 veröffentlicht. Toussaint hatte diesen Verlag nicht bedacht, da er ihm „franchement trop intellectuelle“ erschien. 1987 verfilmt John Lvoff die Romanvorlage. Jean-Philippe Toussaint lebt als freier Schriftsteller und Regisseur in Paris und auf Korsika.