Buchcover Erlaubt ist mehr, als dem Staat gefällt: Pioniergeist und Zensur in der DDR
Vera Elisabeth Gerling über Lateinamerikanische Literatur in der DDR von Jens Kirsten,

Gutachten, Korrespondenzen, Akten, Richtlinien, dies sind die Beweisstücke für die aufgezeigten ‚Fälle‘ in der Geschichte der lateinamerikanischen Literatur in der DDR. Wenn diese auch nicht grundlegend neu ist, so öffnet doch der seit der Staatsauflösung möglich gewordene Zugang zu den Archiven (soweit erhalten) den Raum für weitaus detailliertere Analysen der an Auswahl oder Verwerfung beteiligten Personen und Institutionen. Diese Chance hat Jens Kirsten wahrgenommen.

Nehmen wir den Fall des Autors Miguel Ángel Asturias aus Guatemala, der in der DDR für den deutschsprachigen Raum entdeckt wurde: Seine Bananenarbeitertrilogie konnte aufgrund des Themas der sozialen Ungerechtigkeit mit Leichtigkeit durchgesetzt werden, ließ sie sich doch problemlos als Verherrlichung der Revolution und als Wegbereiterin der sozialistischen Gesellschaft lesen. Paradox erscheint hingegen die Veröffentlichung von Der Herr Präsident im Jahre des Mauerbaus 1961, einer Zeit strengster Kontrolle, die durch die 1. Bitterfelder Konferenz im Jahre 1959 eingeleitet wurde. Dieser Roman, obschon laut Kirsten „eine rigorose Abrechnung mit Diktatoren und selbstherrlichen Potentaten jeglicher Couleur“, konnte wohl nur mit entsprechender Verhüllungstaktik gedruckt werden: In Klappentext und Nachwort wird die Handlung des Romans eindeutig in Guatemala situiert.

Künstler der Verhüllung sind Anthologien und Zeitschriften, in die Texte hineingeschmuggelt werden können: Vom umstrittenen Autor Virgilio Piñera erschien in der Anthologie Moderne Lateinamerikanische Prosa aus dem Jahr 1971 eine Erzählung, die allerdings bereits für die zweite Auflage gestrichen wurde. Im Sonderband der Zeitschrift Sinn und Form zu Lateinamerika gelang es 1973 dem Herausgeber Carlos Rincón, auch Jorge Luis Borges und Julio Cortázar unterzubringen, obwohl deren Werke aufgrund des fehlenden sozialistischen Engagements im offiziellen Diskurs der DDR als nutzlos galten.

Dem Fall des „Über-Zensors“ Antkowiak, alias ‚IM Roiber‘ wird im Buch ein gesondertes Kapitel gewidmet. Dieser berühmt-berüchtigte Spitzel, der auch zeitweise als Lektor beim Verlag Volk und Welt eingeschleust war, steht stellvertretend für die offizielle Meinung zur Literatur, die dem sozialistischen Gedanken treu zu sein hatte. So nimmt es nicht Wunder, dass er Erzählungen des intellektualistischen Jorge Luis Borges als „gänzlich unbrauchbar“ bezeichnete. Das Erscheinen von Asturias’ Der Herr Präsident vermochte er allerdings nicht zu verhindern. Der Einfluss dieses Spitzels, der härteres Vorgehen als die Zensurbehörde selbst verlangte, war zum Glück nicht so groß, wie er selbst es sich gewünscht hätte. Kirsten kommt somit zu dem Schluss, dass das diktatorische System der DDR nicht gänzlich restriktiv funktionierte und viele Möglichkeiten bot, die Staatsmeinung zu unterlaufen. Vielmehr – und das ist interessant – zeigt er auf, wie selbst die Zensurbehörde durch die Empfehlung einschlägiger Nachworte auch die Publikation solcher Bücher – womöglich bewusst? – ermöglichen konnte, die der Staatsdoktrin entgegen standen.

Die literarischen Eigenschaften der Texte wie auch der Übersetzungen werden, wie leider in Rezeptionsstudien häufig, von Kirsten nur oberflächlich beurteilt. So läuft er Gefahr, es den Zensoren gleichzutun: Mehrmals „fallen“ seiner Meinung nach literarische Werke oder Übersetzungen gegenüber anderen „etwas“, „merklich“ oder „deutlich“ ab. Carlos Luis Fallas konstruiert in Kirstens Urteil seinen Roman Mamita Yunai recht ungeschickt und Bodo Uhses Erzählungen zu Mexiko sind fär ihn „literarisch ohne Belang“. Übersetzungen werden von ihm als „kongenial“ oder „sprachgenau“ bewertet, ohne näher ins Detail zu gehen. Diese Wertungen wären allerdings auch gar nicht notwendig, denn das eigentliche Verdienst dieses Buches ist die detaillierte Aufarbeitung eines schwierigen und komplexen Kapitels der DDR-Geschichte. Es wird seiner – für eine Erstausgabe doch etwas überheblichen – Selbstdefinition im Klappentext als „Standardwerk der deutschen Lateinamerika-Forschung“ doch zumindest durch die umfassende und so lobenswert übersichtliche Bibliographie gerecht, in der auch sämtliche Buchbesprechungen mit angegeben sind. So gesehen handelt es sich um eine wahre Schatztruhe für Übersetzungsexperten, denen ein reicher Fundus an Untersuchungsmaterial präsentiert wird: Auf deren Grundlage lassen sich Analysen erarbeiten, die auch die Übersetzungspraxis in ihrem zeitlichen und politischen Kontext untersuchen.

Jens Kirsten beobachtet Phänomene, die immer – wenn auch unter anderen Vorzeichen – für die Rezeption von Literatur gelten: Jede Auswahl ist Interessen verpflichtet. Wenn es in der DDR ein Einschwören auf den sozialen Realismus gab, dann wurde in der BRD ab den 1960er Jahren mit dem ‚Boom‘ der lateinamerikanischen Literatur der sogenannte „Magische Realismus“ à la Gabriel García Márquez und Isabel Allende zum vorrangigen Auswahlkriterium. Heute hingegen wird mehr denn je die Kurzlebigkeit des Buchmarkts zum bestimmenden Faktor, gemäß dem freilich fragwürdigen Grundsatz: Erlaubt ist, was dem Käufer gefällt.

Jens Kirsten: Lateinamerikanische Literatur in der DDR. Publikation- und Wirkungsgeschichte. Christoph Links Verlag 2004, 408 Seiten.

Jens Kirsten war zunächst Möbelpolsterer und Fremdsprachenkorrespondent, bevor er von 1993 bis 1999 Lateinamerikanistik, Linguistik und Altamerikanistik an der FU Berlin studierte. Zur Unterstützung seiner Dissertation erhielt er ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung. Im Jahr 2002 schloss der die Promotion ab. Er hat verschiedene Artikel zum Thema der Rezeption lateinamerikanischer Literatur in der DDR verfasst. Beim hier vorgestellten Buch handelt es sich um seine Dissertation.